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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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hineingewühlt, später alte Sprachen studiert hat und heute befristet angestellt ist in der Vergangenheit, in einer Universitätsstadt, bedrängt von Papierkram, Sprechstunden, Betriebsrauschen. August dagegen: Betriebswirtschaft abgespult, nur gelegentlich eine Vorlesung der Kunstgeschichte oder Musikwissenschaft, alles in allem vielleicht ein Semester Verzögerung, sechs Monate Musik sind vertretbare null Komma sieben Prozent eines durchschnittlich langen Lebens, außerdem hat er in einer Mahlervorlesung Susanne kennengelernt (in einer Mahlervorlesung eine BWL-Kommilitonin kennenzulernen); dann war er noch ein halbes Jahr in Aix, daran denkt er gern, auch wenn er für sein Französisch kaum Verwendung hat, und in Aix hat er, Susanne hat das unterstützt, nach krisenresistenten Branchen Ausschau gehalten, dann entsprechende Praktika, später Center-Manager-Akademie, zwei Jahre bei einem kleinen Center, und schließlich, schon in der Bauphase, zum LustschlösschenCenter.
    Während die Straßenbahn an einer Ampel wartet, guckt er sich im Wagen um. Ein Schuljunge steht eingeklemmt zwischen den Hüften der Fahrgäste. Ein weitsichtiger Linkshänder macht Unterstreichungen in einem Manuskript. Der Mann vor August liest die Angebote in einer Zeitungsbeilage, unten das Logo: LustschlösschenCenter – Bequemheit erleben . August schaut zum Fenster hinaus. Aus einer Haustür treten ein Kleinkind im rosa Kleid und eine Frau. Die Frau guckt prüfend zum Himmel, holt ein Hütchen hervor und setzt es dem Kind auf den Kopf. Sofort reißt das Kind das Hütchen vom Kopf und wirft es auf den Boden. Die Mutter bückt sich und setzt es dem Kind wieder auf. Diesmal nimmt das Kind es hin; dafür breitet es die Arme aus, wirft sich der Mutter mit Wucht in die Beine und hält sie umklammert. Die Mutter nimmt das Kind auf den Arm und trägt es fort.
    Als die Bahn wieder losfährt, schaut August auf die Armbanduhr, die ihm sein Vater vor Jahren geschenkt hat; aber er ist ja ohnehin viel zu früh dran. Auch die junge Frau neben ihm sieht nach der Zeit, auf dem Display ihres Handys steht ein römisches Zifferblatt. An der Tür lehnt ein Südländer mit Dreitagebart und Künstlerhut, unter dem Jackett aus braunem Cord eine Weste, an der das goldene Kettchen einer Taschenuhr baumelt. Das gefällt August: die Zeit, wenn schon, statt ans Handgelenk zu binden, in die Tasche zu stecken. Während nur wenige Gedanken durch seinen Kopf gehuscht sind, ist er durch zahllose Straßenzüge gefahren, entlang an Mietskasernen, Plattenbauten, Gründerzeithäusern, an ewig sich wiederholenden Baulücken, Brachen, Erschließungsgeländen, schließlich, mit fernem Blick in die Fußgängerzone der Schlösschenfreiheit, vorbei an Müllhof und Multiplex – da hat sich das riesige silbrig graue Oval der Mall aller Aussichten bemächtigt, die Tramtüren öffnen sich, und August steigt aus.

    Den andern Tag, in letzter Zeit immer häufiger, geht er zu Fuß. Die Morgen sind noch leicht, erst später wird es drückend. So kann August auf seinem langen Weg unbeschwert die Strecke umfärben, immer wieder, er macht sich ein Spiel daraus. Er gliedert den Weg nicht nach markanten Gebäuden und vielbefahrenen Kreuzungen, sondern orientiert sich an kleinen Knöpfen im Asphalt: in den Boden eingelassenen Plättchen, die wie ein dichtes Netz auf der Stadt liegen. Er geht, ohne aufzuschauen, von Punkt zu Punkt, die Plättchen liegen nah beieinander, es muss Abertausende geben, winzige oder etwas größere Kreise, selten auch Quadrate, aus Kupfer, Messing, Aluminium, in Fugen, Beton, zwischen Pflastersteinen, in versteckten Ecken und – noch verborgener – mitten auf der Fahrbahn, mal steht VERM.PUNKT darauf, mal MESSPUNKT , öfter sind sie von rosa Farbkreisen umgeben, aufgesprüht von Landvermessern, die gelegentlich von weitem zu sehen sind. Täuschungen kommen auch vor, zwischen Pflastersteinen festgetretene Kronkorken etwa oder Centmünzen. August hangelt sich von Messpunkt zu Messpunkt. Er stellt sich vor, eines Nachts gingen alle Lichter der Stadt aus, es gäbe keine Laternen mehr und keine hellen Fenster, keine Autoscheinwerfer und keine bunten Reklamen, und nun fingen all die Punkte im Boden zu leuchten an, ganz matt: Eine neue Stadt wäre geboren. Oder er überlegt, ob sich, durch Kälte, Hitze, Trockenheit, Nässe, der Asphalt der Fahrbahnen vielleicht ständig ein wenig verzieht und die Gehwegplatten immerzu leicht verschieben, um Bruchteile von Millimetern
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