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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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den Weg zur Arbeit. Als er die Wohnungstür hinter sich zuzieht, erinnert er sich an zwei Erlebnisse aus den vergangenen Wochen; immer an der Wohnungstür fallen ihm diese beiden Vorfälle ein, immer gemeinsam oder wenigstens dicht beieinander, sodass auch der erste, der sich nicht in der Wohnung zutrug, sondern unter freiem Himmel, mit der Tür verbunden ist: August spaziert gern auf Friedhöfen, zwischen den Bäumen horcht er Vogelstimmen nach, oder er geht zwischen alten Grabsteinen und frischen Erdhügeln umher und liest Namen und Daten. Am meisten interessieren ihn die Gräber, an denen etwas nicht stimmt. Nichts ist natürlich so falsch wie das Grab eines Kindes; August rechnet manchmal nach, wie alt das Kind heute wäre, vielleicht am Grab eines Jungen, der jetzt, wie er, Mitte dreißig wäre, wäre nicht mit fünf schon alles abgebrochen. Aber es gibt auch die rätselhaften Unstimmigkeiten, Spuren veränderter oder fehlgeschlagener Lebenspläne: etwa wenn auf einem Grabstein neben dem Namen des Toten noch ein zweiter steht, ein Frauenname, nur mit Geburtsdatum, ein Tag 1870 oder 80, und darunter ein Kreuz, wo das Sterbedatum hätte stehen sollen – aber da steht nichts, nur der Tag der Geburt, ein Anfang ohne Ende, dabei kann die Frau nicht mehr leben, sie muss also irgendwo anders liegen, was mag da passiert sein? Liegt sie bei einem anderen, späte Liebe, oder ist sie in einem Keller verschüttet worden, hat sie sich irgendwo in die Welt oder Luft aufgelöst? Das Grab, an das er sich an der Tür erinnert, war nicht so auffällig, im Gegenteil, diese Frau hatte ein ordentliches Alter, als sie in den zwanziger Jahren starb. Auf der schmiedeeisernen Tafel, umrahmt von verrosteten Blätterranken, stand:
Wer treu gewirkt,
Bis ihm die Kraft gebricht,
Und liebend stirbt,
Ach, den vergißt man nicht.
    Vor dem Grab standen zwei Mädchen, mit Zahnspangen und schwarzblätterndem Nagellack, in ihrem Flüstern und noch in ihrem halb unterdrückten Lachen lag Respekt vor dem Ort. Aber der Drang zu lachen war stärker: Besonders das gewirkt hatte es den beiden Mädchen angetan, die eine wisperte es vor, treu gewirkt , und die andere hauchte: Ach , und wieder mussten sie lachen.
    Das zweite Erlebnis hängt dagegen direkt mit der Wohnungstür zusammen. Sie schließt nicht leicht, man muss sie kräftig zudrücken, damit das Schloss einschnappt. Als August an einem Morgen die Tür öffnete, um zur Arbeit zu gehen, merkte er, dass sie nicht eingerastet war. Offenbar war sie die ganze Nacht, während er geschlafen hatte, unverschlossen gewesen. Vom Treppenhaus aus war das wohl nicht zu sehen, aber wenn jemand leicht gedrückt hätte, wäre die Tür aufgegangen. Eine schöne, sanfte Bewegung müsste das sein, dieses vorsichtige Aufdrücken; August zieht die Tür langsam zu, sodass sie nicht einschnappt, und drückt sie wieder auf, aber er drückt immer zu zaghaft oder zu fest, es gelingt ihm nie wie in der Vorstellung, wenn er in der Wirklichkeit die Wohnung verlässt und sich auf den Weg zur Arbeit macht.

    Den einen Tag nimmt er die Straßenbahn. Menschen auf dem Arbeitsweg: das Gegenteil von rumgehen, der möglichst kurze und notwendig üble Weg von A nach O. August versucht, ihn zu verdrehen, indem er Fahrgäste beobachtet oder zum Fenster hinausschaut. Unterwegs kommt die Tram an einem Altersheim vorbei, einem großen Haus mit Garten, von Fahrt zu Fahrt hat August sich ein Bild zusammengesetzt: im Glasvorbau ein Gummibaum mit hängenden breiten Blättern, eingestaubt wahrscheinlich, und neben der Pflanze, den Raum bis auf einen schmalen Durchgang ausfüllend, ein Korbstuhl mit einer bewegungslosen alten Frau; auch im Sommer eine Wolldecke auf den Beinen, sitzt sie immer schon da und schaut auf die Straße, mit keiner Regung verratend, ob sie etwas wahrnimmt. Sie ist in ihrem Rumsitzen von morgens an der Welt abhandengekommen. Wird sie außer August noch jemandem fehlen, wenn sie ganz verschwunden sein wird? Nur aus Versehen noch in der Zeit, für die sie und die für sie keine Verwendung mehr hat, ist sie reine Vergangenheit; oder schon ganz aufgegangen im Wird-gewesen-sein, vollendete Zukunft. Im Deutschen muss man sich die Wörter zusammenkleben, das Lateinische hatte eine echte Form dafür, das muss einen Grund haben. Er war nicht gut in Latein, ihm haben Begabung und tieferes Interesse gefehlt, im Gegensatz zu seiner Schwester, die schon als Teenager mit Gespenstern gesprochen und sich in alte Überlieferungen
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