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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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bis zum 31.05. auf unser Konto. Vielen Dank für Ihren Auftrag, wir sind weiterhin interessiert, Ihnen optimale Qualität in unserer Arbeit zu bieten , die jährliche Post vom Kinderdorf in Bangladesch (die Patenschaft hat er schon während des Studiums übernommen, später den Betrag erhöht, was sind drei achtundzwanzig am Tag). Er ist zu müde, um ins Bett zu gehen, er kann sich nicht vom Sofa erheben. Diese Trägheit befällt ihn hier immer wieder, kaum ist er durch die Tür getreten, werden seine Schritte schwer, will er die Beine heben, hängen sie am Boden fest, will er vom Sofa aufstehen, hängt er in bodenloser Tiefe. Er fühlt sich in seinen eigenen Wänden wie gelähmt, er glaubt, dass in seiner Wohnung die Schwerkraft stärker ist als draußen, vielleicht lebt er in einer Schwerkraftverstärkungswohnung. An der Wand flattert ein Insekt auf und ab, auch das Tier, kommt August vor, wird immer und immer wieder hinuntergezogen. Vor dem Fenster wird der Morgen sichtbar. Er könnte noch ein bisschen Musik hören; eigentlich sollte er sich unbedingt hinlegen, zwei Stunden schlafen, ehe er ins Büro geht (er wird heute die Bauleiterin vom Trevibrunnen treffen), wenigstens dösen, denkt er, etwas dösen, aber er bleibt im Sofa sitzen und betrachtet die Buchrücken im Regal:
Ein weißes Buch.
Ein blaues Buch.
Ein schwarzes Buch.
Ein blaues Buch. (Wieder ein blaues, tatsächlich.)
Ein weißes Buch.
Ein gelbes Buch.
Ein schwarzes Buch.
Ein rotes Buch.
Ein grünes Buch.
Ein grünes Buch.
Ein weißes Buch.
Ein gelbes Buch.
Ein hellblaues Buch.
Ein dunkelrotes Buch.
Ein weißliches Buch, leicht vergilbt.
Ein glänzend blaues Buch, strahlend gelbe Schrift.
Ein breitschultriges blaues Buch.
    Eine Reihe gleicher Buchrücken in einer Kassette, sanft gewölbt, eine dunkelblaue Wellenreihe, je länger man sie ansieht, desto mehr ähnelt sie dem Meer am Abend, mit weißen Buchstaben wie mit Schaumkronen betupft, unmerkliche Abweichungen nur in der Strichlänge, sonst in ihrer Bewegung vollkommen gleichförmig; ein graues Buch, das über alle hinausragt, wie eine Laterne, auch sie kaum sichtbar in Bewegung, eine lange schwarze Reihe, einige mattweiße und graue Körper, ein purpurrot leuchtender ein Buch scheint zu schwitzen eins zu atmen eins vor Anspannung zu zittern

    zu zittern

    wie August gern einmal zittern würde. Er blinzelt und fühlt sich eingespannt in sein Leben, aber falsch, es zieht ihn nicht in alle Richtungen, er ist eher in die Erschlaffung vertäut wie auf ein Streckbett. Er möchte einmal zittern von Streckung, aber er ist mutlos vor den unsinnigen Ausdrücken und verkehrten Bildern, die ihm einfallen, wenn er an sein Leben denkt. Nun hat er eben die Bücher angestarrt, und jetzt ist das vorbei, und er wünscht sich, es ginge einmal anders; aber bliebe jeder Augenblick des Lebens stehen, müsste man wahnsinnig werden, der Kopf zerspränge in tausend Scherben, oder er würde vom Fortschrittsunterdruck implodieren wie eine Backpflaume oder kosmische Schildkröte, denn ein Moment könnte ja nur ewig bleiben, wenn man selbst ewig unverändert bliebe: Das wäre das Ende. Und doch kommt es August wie eine Art Grundwunder oder Grundübel vor und zutiefst unglaubwürdig, dass das Leben überhaupt anders sein kann als gleichzeitig.
    Vielleicht aus diesem Grund sucht August in letzter Zeit nach möglichen Erlebnissen. Bei der Arbeit hält er manchmal heimlich den Atem an. Einmal hat er es geschafft, im Büro, umgeben von Kollegen und Topfpflanzen, aus seinem Innersten einen Anflug von Erstickungsangst aufsteigen zu spüren, das war schön. Jetzt legt er sich bäuchlings aufs Sofa und dreht den Kopf zur Seite, presst das Gesicht in die Lehne und das Ohr in die Sitzfläche, die Haut klebt am Leder, und wie er da liegt, spürt er sein Herz pochen. Die Unregelmäßigkeit erschreckt ihn, kann das vom Schlafmangel kommen? Aber noch mehr staunt er darüber, dass sein Herz all die Jahre weiter und immer weiter geschlagen hat, unbeachtet, und ohne dass man es je hätte anstoßen müssen. Er rappelt sich auf, stellt sich ans Fenster, geht dann, statt es zu öffnen, zum Thermostat und dreht am Knöpfchen, erst auf Innentemperatur, dann auf Außentemperatur, und was für ein Zufall, zweimal steht 23.3 °C da, seltene Harmonie von innen und außen, worauf weist das hin?
    Er isst eine halbe Banane, duscht, zieht frische Wäsche an und ein sauberes Hemd, bürstet sorgfältig seinen Anzug. Obwohl es noch früh ist, macht er sich auf
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