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Die Stadt der gefallenen Engel

Die Stadt der gefallenen Engel

Titel: Die Stadt der gefallenen Engel
Autoren: Rainer Wekwerth
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Prolog
Erwachen
    Er war nicht mehr als ein Schatten in der Dunkelheit. Ein Schemen, der sich gegen den wolkenzerfetzten Himmel abhob. Der Mann kauerte auf einem Mauervorsprung, hoch oben über den pulsierenden Lichtern der Stadt.
    Vollkommen regungslos.
    Nur der Wind spielte mit seinen Haaren, wehte sie um das entrückte Gesicht, als wolle er den Mann zum Tanz im Mondlicht einladen, doch dieser schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Gleich einer Krähe kauerte er in Gedanken versunken auf dem Dachfirst, die Arme vor der Brust gekreuzt. Seine dunkle Kleidung verstärkte den vogelartigen Eindruck noch. Als er einen Arm hob und die Hand anklagend dem Himmel entgegenstreckte, zerstob das Bild.
    Warum? Warum hast du mich fallen lassen?
    Er erwartete keine Antwort auf diese Frage. Es gab keine Antwort. Es gab nur die Nacht und den Wind. Und vielleicht war das genug. Vielleicht war es sogar mehr, als er sich überhaupt erhoffen konnte.
    Das Dunkelblau des Nachthimmels wich einem tiefen Schwarz und das Leben der Stadt schien sich eine kleine Atempause zu gönnen. Immer weniger Autos fuhren über die vierspurige Straße unter ihm und die Lichter der Häuser erloschen nach und nach. Der Mann legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Der Geruch des Tages war dem Duft der Nacht gewichen. Er konnte die Büsche und Bäume des nahe gelegenen Parks riechen. Tief sog der die Luft ein und verharrte einen Augenblick. Er versuchte, nicht an die Menschen zu denken, die dort unten in ihren Betten lagen oder sich schlaftrunken auf den Weg zur Arbeit machten. All das Leben unter ihm wollte er für einen Moment vergessen. Er fühlte die Kraft des Windes auf seinem Gesicht, die kalte Luft strich über seine Haut und er genoss das Prickeln, das seinen Körper erfasste. Er spürte die Wolken, die sich zu mächtigen Gebilden auftürmten, als würde sich auch eine schwere Last auf seine Schultern legen. Bald würde der aufziehende Sturm Regen bringen.
    Ein einzelner Tropfen fand seinen Weg auf seine geöffneten Lippen. Er lächelte.
    Wasser! Das Leben selbst.
    Die Mauersteine knirschten unter seinen Stiefeln, als er sich erhob. Breitbeinig stand der Mann am Rand des Daches, die Arme weit ausgestreckt. Der Wind rüttelte an seiner Gestalt, wollte ihn packen, über den Vorsprung reißen, aber er trotzte der Kraft.
    Ein Lächeln umspielte seine Lippen, während er so dastand. Es war einfach unglaublich, das alles zu spüren. Fühlen zu können. Vor Freude lachte er laut auf. Ein einsamer Klang in der Finsternis, der sich mit dem Heulen des Sturms vermischte. Der Wind peitschte ihm Regentropfen ins Gesicht, aber da war noch etwas. Etwas anderes.
    Hinter ihm erklang ein schabendes Geräusch. Krallen, die über Stein kratzten. Schwefelgeruch mischte sich in den Geschmack des Regens und den Duft der Nacht. Der Mann verzog das Gesicht. Er hatte ihnen befohlen, in der Dunkelheit auszuharren und zu warten, bis er zu ihnen kam.
    »Herr«, knurrte eine tiefe Stimme hinter seinem Rücken.
    Der Angesprochene hob eine Hand, ohne sich umzudrehen.
    »Du störst mich«, sagte er verärgert. »Hast du keine Ehrfurcht vor der Schönheit der Nacht? Fühlst du nicht das Leben um dich herum?« Er hielt kurz inne und holte ein paarmal tief Luft, ehe er fortfuhr. »Und warum wartest du nicht, wie ich es befohlen habe?«
    »Deine Diener sind ungeduldig.«
    Der Anführer spürte, wie sich der Blick aus geschlitzten Pupillen in seinen Rücken bohrte. Er lauschte in sich hinein, ob er Angst empfand, aber da war nur dieses berauschende Gefühl, am Leben zu sein. Sie fürchteten ihn noch immer. Fürchteten seine ungeheure Macht, die jeden einzelnen von ihnen zu Staub zermalmen konnte.
    Aber wie lange noch? Mit jedem Atemzug nahm seine Kraft ab. Der Mann wusste, dass die Zeit kommen würde, da sich seine Diener nicht mehr seinen Befehlen beugen würden. Dann würde er sterben.
    Doch er durfte keine Schwäche zeigen. Mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht wandte er sich um.
    Das Wesen stand nur wenige Schritte entfernt. Der Wind trieb die Wolken am Himmel auseinander und das bleiche Licht des Mondes fiel auf eine Gestalt, die ihn weit überragte. Obwohl der größte Teil durch die fahle Dunkelheit verborgen blieb, erahnte er die Kraft, die sich in diesem Körper verbarg. Sein Gegenüber schien nur darauf zu warten, sich auf ihn zu stürzen.
    Ohne zu zögern, trat er näher. Sein Blick drang tief in die gelben Pupillen ein. Langsam legte der Mann einen Finger
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