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Die Stadt der gefallenen Engel

Die Stadt der gefallenen Engel

Titel: Die Stadt der gefallenen Engel
Autoren: Rainer Wekwerth
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in ihrem Inneren hätte lindern können.
    Lara blickte zum Himmel und sah ein paar Krähen, die ihr Spiel mit dem Wind trieben. Fasziniert beobachtete sie, wie sie sich von einer Böe emportragen und wieder fallen ließen. Sie fragte sich, wie es wohl sein mochte, schwerelos am Himmel zu schweben und niemals abzustürzen.
    Auch sie war geschwebt. Mit Ben. Hatte sich einfach von diesem unheimlich schönen Gefühl tragen lassen. Aber dann war sie gefallen und hart aufgeschlagen.
    Tut mir leid, aber ich denke, es ist besser, wenn wir uns eine Weile nicht mehr sehen. Ich habe jemand anderen kennengelernt, hatte er ihr vor zehn Tagen per SMS geschrieben.
    Nicht mehr sehen? Wie hatte Ben sich das vorgestellt? Schließlich ging er auf die gleiche Schule wie sie, es war unmöglich, sich nicht zu begegnen! Jede Pause war seitdem die Hölle für sie gewesen. Sie konnte es einfach nicht glauben, dass sie nicht mehr zu ihm zu gehen durfte, ihn nicht mehr umarmen konnte, nie wieder seine Lippen auf den ihren spüren würde.
    Ben hatte sie in den Pausen angelächelt, als sei nichts zwischen ihnen vorgefallen, aber für sie war jedes Lächeln ein Stich ins Herz gewesen und sie hatte nur noch Schmerz gefühlt.
    Ich hätte mit ihm schlafen sollen, dachte Lara. Ich hätte es tun sollen, als er es wollte.
    »Irgendwann muss es passieren«, hatte er gesagt.
    Aber sie hatte sich bedrängt gefühlt, tief im Inneren gespürt, dass sie noch nicht dafür bereit war.
    »Ich möchte noch warten«, hatte sie zu ihm gesagt.
    Daraufhin war er gegangen. Wortlos.
    Zwei Tage hatte sie ihn nicht gesehen. Er war nicht zur Schule gekommen und ihre Anrufe und Nachrichten waren unbeantwortet geblieben. Am dritten Tag hatte sie die SMS erhalten.
    Arschloch.
    Wut stieg in ihr auf. Wie konnte er sie nach dieser langen Zeit so behandeln?
    »Lara, kommst du jetzt endlich?« Die Stimme ihrer Mutter klang ungeduldig.
    Lara wischte sich hastig die Tränen von den Wangen, dann lief sie um den Wagen herum und half ihrer Mutter, den Koffer auszuladen. Der Ausziehgriff klemmte, und erst nachdem sie beide heftig daran gezogen hatten, ließ sich die Verlängerung herausziehen, sodass sie den schweren Koffer hinter sich herziehen konnten.
    Während der Regen unablässig auf sie herabfiel, wandte Lara den Kopf und betrachtete die Spuren der Plastikrollen im Kies. Sie lächelte bitter.
    Wenigstens so hinterlasse ich Spuren.
    »Was hast du?«, fragte ihre Mutter. »Du siehst schon den ganzen Vormittag so traurig aus. Freust du dich denn gar nicht auf Berlin? Ist es wegen Ben?«
    Lara blickte in das Gesicht ihrer Mutter und sah die ernsthafte Anteilnahme darin.
    »Ja, wegen Ben … und dem Wetter … und auch wegen Berlin. Vielleicht sollte ich doch hierbleiben und mich die nächsten zwei Wochen in meinem Zimmer verkriechen – oder besser gleich für den ganzen Rest meines Lebens.«
    Rachel blieb stehen und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Das, was du gerade erlebst, muss jeder einmal durchmachen. Es gehört dazu.«
    »Ich weiß, aber das macht es auch nicht leichter«, sagte Lara.
    »Niemand sagt, dass es leicht ist.«
    »Aber mir hat auch niemand gesagt, wie beschissen weh es tut, wenn es vorbei ist.«
    Normalerweise reagierte ihre Mutter allergisch darauf, wenn sie Wörter wie »beschissen« benutzte, aber dieses Mal schien sie einfach darüber hinwegzuhören.
    »Richtig, das erfährt man erst, wenn es zu spät ist. Aber es gibt keine Liebe ohne Schmerz. Je früher du das verstehst, desto erträglicher wird es für dich sein, wenn der Schmerz kommt und dich aufzufressen versucht.«
    »Liebst du Papa noch immer?«, fragte Lara leise.
    Ihr Vater hatte die Familie kurz nach ihrer Geburt verlassen und sie hatten nie wieder etwas von ihm gehört.
    Rachels Augen schienen eine Spur dunkler zu werden. »Ich liebe und ich hasse ihn.«
    »Du hast jedes Recht dazu, ihn zu hassen.« Laras Wut auf Ben und ihren Vater machte sich Luft und ihre Stimme klang verbittert.
    »Weißt du, ich glaube, wir sollten wirklich nicht mehr darüber sprechen. Wir können es nicht ungeschehen machen und es schmerzt jedes Mal aufs Neue, darüber zu reden.«
    »Ich habe es einfach immer noch nicht verstanden.« Lara zögerte. »Vielleicht war es ja doch wegen mir.«
    Laras Mutter zog ihre Tochter eng an sich. »Du weißt, so war es nicht. Wir haben oft darüber gesprochen«, flüsterte sie leise. Ihre Stimme klang plötzlich rau.
    Lara löste sich aus der Umarmung. Ihre Mutter trat verlegen einen
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