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Die Stadt der gefallenen Engel

Die Stadt der gefallenen Engel

Titel: Die Stadt der gefallenen Engel
Autoren: Rainer Wekwerth
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über die geöffneten Lippen mit den langen Reißzähnen.
    »Ich sage, du sollst schweigen.« Fast zärtlich strich der Finger über das schuppige Fleisch. »Schweig und gehorche meinen Befehlen.« Seine Stimme war gefährlich leise geworden und deutlich war die Drohung zu hören, die in diesen Worten mitschwang.
    Die Lippen zuckten, als wollten sie widersprechen.
    »Nein.« Die Stimme des Anführers klang wie brüchiges Glas. »Und nun geh! Geh zu den anderen. Sag ihnen, wir werden noch warten.«
    Er nahm den Finger von den Lippen des anderen und deutete in die Finsternis hinaus. Seine Stimme wurde sanft, als er weitersprach. »Die Engel sind wachsam. Heute ist nicht die Nacht des Kampfes. Heute ist die Nacht der List. Deshalb muss ich nachdenken.«
    Die Miene des Anführers verdüsterte sich, dann drehte er sich abrupt um. »Und du wirst mich nicht noch einmal stören.«

1.
    Lara stöhnte und verdrehte genervt die Augen. Der Regen fiel immer dichter und der Bahnhof war durch die grauen Schlieren auf der Windschutzscheibe kaum auszumachen. Hoffentlich war es in Berlin besser als hier. Aber egal ob Regen oder nicht, wichtig war nur, dass sie endlich Ferien hatte und zwei Wochen lang wegkonnte. Weg von Ben und den traurigen Tagen, die hinter ihr lagen.
    Laras Mutter lenkte den großen Volvo in eine Seitenstraße und hielt nach einem Parkplatz Ausschau. Regentropfen hinterließen verschwommene Spuren auf dem Autofenster. Die Lüftung des Fahrzeugs lief auf Hochtouren, trotzdem war die Scheibe beschlagen. Ihre Mutter beugte sich kurzsichtig über das Lenkrad, um etwas zu erkennen. »Siehst du was?«, fragte sie.
    »Da vorne«, antwortete Lara. »Es sind jede Menge Parkplätze frei.«
    Wen wunderte das in einem Dorf wie Rottenbach? Es war jetzt kurz vor elf Uhr und der morgendliche Pendlerverkehr nach Stuttgart war längst versiegt. Lara seufzte. Rottenbach war wirklich nicht der Nabel der Welt. Eigentlich war hier nur morgens und am Abend etwas los, wenn die Menschen zur Arbeit fuhren oder wieder nach Hause kamen. Dann wimmelte es von Leuten mit Aktentaschen, Frauen und Männern in grauer oder schwarzer Kleidung. Jugendliche kamen kaum hierher. Entweder nahmen sie den Bus zur Schule oder sie ließen sich von ihren Eltern fahren.
    Laras Mutter hatte endlich einen freien Parkplatz erspäht und steuerte nun den Wagen umständlich hinein. Lara warf ihr einen Blick zu und hätte beinahe laut aufgelacht, als sie sah, wie ihre Mutter konzentriert die Lippen schürzte. Und trotz dieser albernen Mimik sah sie toll aus, wie immer. Die langen braunen Locken fielen weit über die Schultern hinab und umspielten ihr hübsches Gesicht.
    Lara wusste, dass sie ihrer Mutter ähnlich sah. Sie hatten die gleichen Haare und ihre Gesichter zeigten unverkennbar die enge Verwandtschaft. Allerdings war die Nase ihrer Mutter schmal und gerade und bei ihr selbst ein wenig gebogen, was ihr ihrer Meinung nach ein vogelähnliches Aussehen verlieh. Außerdem hatte Rachel olivfarbene Haut, sie hingegen wirkte etwas blass. Aber auf ihre Augen war Lara stolz, denn die Augenfarbe ihrer Mutter war ein unauffälliges Braun, während ihre Pupillen einen intensiven grünen Schimmer hatten und bei Sonnenschein wie ein Smaragd leuchteten. Ben hatte immer gesagt, dass sie wie zwei kleine Waldseen schimmern würden …
    »Hallo, Fräulein Winter«, lachte Laras Mutter und riss sie aus ihren Gedanken, »wir müssen uns beeilen! Dein Zug kommt gleich.« Und schon hatte sie die Fahrertür aufgemacht und der mit Regen vermischte Wind drang unerbittlich ins warme Innere.
    »Ich komm ja schon«, murmelte Lara und stieg aus.
    Eigentlich kam ihr der Regen genau recht. So würde niemand ihre Tränen sehen, die ihr bei dem Gedanken an Ben in die Augen gestiegen waren. Und je schneller sie bei ihren Großeltern in Berlin war, umso schneller konnte sie der Erinnerung an Ben entfliehen, die sie seit ein paar Tagen zu ersticken drohte. Es war die Idee ihrer Großeltern gewesen, dass sie zu Besuch kam, und obwohl Lara zurzeit auf gar nichts Lust hatte, war sie froh, für eine Weile nicht in Rottenbach sein zu müssen.
    Ben, Ben, Ben. Den ganzen Tag war er in ihrem Kopf. Und sogar in ihre Träume stahl er sich. Seit er mit ihr Schluss gemacht hatte, drehten sich ihre Gedanken nur noch um ihn. So als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt. Wie einen Kieselstein rollte sie die Frage nach dem »Warum« in ihrem Kopf hin und her und fand doch keine Erklärung, die den Schmerz
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