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Die Stadt der gefallenen Engel

Die Stadt der gefallenen Engel

Titel: Die Stadt der gefallenen Engel
Autoren: Rainer Wekwerth
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Schritt zurück.
    »Was wirst du ohne mich anfangen, wenn ich in Berlin bin?«, versuchte Lara, einen unbefangenen Ton anzuschlagen.
    »Na ja, es gibt da diesen neuen Kollegen in der Firma … Thorsten Stegemann. Ich habe dir von ihm erzählt. Er ist wirklich nett und er hat schon öfter gefragt, ob wir nicht mal zusammen was unternehmen wollen.«
    »Also Mama!«, sagte Lara gespielt vorwurfsvoll, aber innerlich war sie froh darüber, dass ihre Mutter vielleicht endlich jemanden gefunden hatte, mit dem sie eine Beziehung aufbauen konnte. Seit ihr Vater gegangen war, hatten sie allein gelebt.
    Ihre Mutter grinste über das ganze Gesicht. »Und wenn es nicht klappt oder ein großer Reinfall wird, dann komme ich zu dir und lasse mich trösten.«
    Lara lächelte. Ihre Mutter schaffte es immer wieder, sie aufzuheitern, selbst wenn sie nicht aufgeheitert werden wollte.
    »Ich bin erst siebzehn und hab vom Leben noch keine Ahnung«, sagte sie theatralisch und seufzte übertrieben laut.
    »Du hast gelernt, was Schmerz ist. Diese Erfahrung ist zwar nicht schön, aber sie macht dich erwachsener.«
    Eine Lautsprecherdurchsage kündete das Eintreffen des Verbindungszuges nach Stuttgart an.
    »Jetzt aber los«, rief ihre Mutter lachend. Beide legten die Hände auf den Koffergriff und rannten zum Bahnsteig.

2.
    Lara stieg aus dem ICE und blieb benommen stehen. Die fünfeinhalb Stunden, die der Zug für die gesamte Strecke bis nach Berlin gebraucht hatte, waren wahnsinnig schnell vergangen. Sie war so erschöpft gewesen, dass sie schon kurz hinter Stuttgart eingeschlafen war. Kalte Luft schlug ihr nun entgegen und die Menschen rempelten sie an, weil sie mitten auf dem Bahnsteig stehen geblieben war. Doch Lara wollte sich erst einmal umsehen.
    Der Berliner Hauptbahnhof war atemberaubend. Die unteren Etagen wirkten wie ein großzügig angelegtes Kaufhaus, wohingegen die oberen Etagen aufgrund der luftigen Stahl- und Glaskonstruktion lichtdurchflutet waren und mehr dem ähnelten, was man sich unter einem Weltraumbahnhof der Zukunft vorstellte. Fast schien es Lara, als hätte sie eine Zeitreise unternommen und die nächste Lautsprecherdurchsage würde den Abflug zum Mars oder zur Venus bekannt geben. Stattdessen sagte eine künstlich wirkende Stimme die Einfahrt eines ICEs aus Hamburg an.
    Um sie herum drängten die Menschen vorwärts und Lara ließ sich nun einfach mit dem Strom treiben. Die Luft war erfüllt von unzähligen Sprachen. Menschen aus aller Welt erinnerten in ihrer Vielfalt an einen tropischen Fischschwarm, der mal hierhin, mal dorthin drängte.
    Lara lachte kurz auf, als sie daran dachte, wie sie heute Morgen noch auf dem Rottenbacher Bahnhof gestanden hatte. Dann sog sie tief die Luft ein. Es duftete nach Freiheit, nach Abenteuer, nach Leben.
    Das war Berlin. Ihre Zeit in Berlin. Und sie begann genau hier und jetzt.
     
    Es hatte aufgehört zu regnen, aber noch immer liefen Tropfen die Fensterscheibe des Taxis hinunter. Lara hatte den Bahnhof im Erdgeschoss verlassen und am Europaplatz ein Taxi genommen, so wie es ihre Großeltern ihr gesagt hatten. Der Fahrer, ein schweigsamer junger Mann mit mürrischem Gesichtsausdruck, hatte nur einmal mit ihr gesprochen, als er das Fahrziel wissen wollte. Lara hatte kein Problem damit, sie hatte sowieso keine Lust auf sinnlosen Smalltalk und schaute stattdessen lieber aus dem Fenster.
    Das also war Berlin. Der Ort, an dem sie zur Welt gekommen war. Lara spürte ein leichtes Kribbeln in der Magengegend. Zuletzt war sie vor fünf Jahren hier gewesen, doch die Erinnerungen an die Stadt und auch an die Großeltern waren wie von einem Schleier überdeckt. Lara kniff die Augen zusammen. Vereinzelte Sonnenstrahlen drangen durch die Wolken und ließen Fensterscheiben und Hausfassaden glänzen und funkeln. Die Stadt war grüner als erwartet. Überall säumten Bäume die Straßen, die Blätter waren bereits herbstlich verfärbt.
    Als sie die stark befahrene Straße verlassen hatten, wurde der Verkehr immer ruhiger. Schließlich hatten sie die Stadtmitte so weit hinter sich gelassen, dass der Verkehr nur noch träge dahinfloss. Niedrigere Häuser lösten die mehrstöckigen Gebäude ab, die wiederum Villen aus dem neunzehnten Jahrhundert Platz machten. Die Gegend, durch die sie nun fuhren, wirkte wohlhabend, aber nicht protzig. Hier lebten zweifelsohne Menschen der oberen Gesellschaftsschicht. Alles war sauber und ordentlich, die Häuser waren aufwendig renoviert und die Gärten groß und
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