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Die Stadt der gefallenen Engel

Die Stadt der gefallenen Engel

Titel: Die Stadt der gefallenen Engel
Autoren: Rainer Wekwerth
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gepflegt. In vielen Einfahrten parkten teure Autos. Fußgänger waren kaum zu sehen und Lara konnte auch keine spielenden Kinder in den Gärten oder auf den Straßen entdecken.
    Als das Taxi vor dem Haus ihrer Großeltern hielt, hatten sich die Regenwolken verzogen und das letzte Licht des Tages spiegelte sich in den Pfützen. Lara stieg aus dem Fahrzeug und spürte, dass sie ein wenig nervös war. Der Taxifahrer lud ihren Trolley aus, nahm das Fahrgeld und ein kleines Trinkgeld entgegen, bevor er wieder einstieg und davonbrauste.
    Der Wind zauste an Laras Haar, als sie das mit schwarzen Schieferschindeln gedeckte Haus betrachtete. Sie war schon einmal hier gewesen, im Alter von zwölf Jahren, aber im Sommer hatte das Anwesen ihrer Großeltern weniger düster gewirkt. Auf den Schindeln glänzte feucht der Regen und verlieh dem Ganzen etwas Unwirkliches. Das würde nun also für die nächsten Tage ihr Zuhause sein. Lara hatte sich auf die Zeit in Berlin gefreut. Doch nun, als sie vor dem Haus ihrer Großeltern stand, machte sich ein merkwürdiges Gefühl in ihr breit. Entschlossen schüttelte Lara es ab. Sie war hier, um sich in das Leben der Großstadt zu stürzen. Sie wollte Spaß haben und all die schrecklichen Tage, die hinter ihr lagen, einfach nur vergessen.
    Verwelktes Laub raschelte unter ihren Füßen, als Lara die mit Kies bestreute Einfahrt zur Vorderseite des Hauses hinaufging. Die Räder des Trolleys blieben immer wieder stecken und es kostete sie ziemlich viel Kraft, den Koffer hinter sich herzuziehen. Schließlich erreichte sie schnaufend die kleine Treppe.
    Gerade in dem Augenblick, als sie die abgetretenen Steinstufen in Angriff nehmen wollte, flog die Haustür auf und ihre Großeltern traten heraus.
    Martha kam die Stufen herab, während ihr Mann im Türrahmen stehen blieb. Als sie vor Lara stand, schien sie einen Moment zu zögern, doch dann breitete sie ihre Arme aus und umarmte ihre Enkeltochter zur Begrüßung.
    »Wir freuen uns so, dass du gekommen bist, Lara.« Die Augen ihrer Großmutter strahlten, als sich Lara befreite und sie neugierig betrachtete. Sie hatten sich seit ihrem letzten Besuch nicht mehr gesehen, aber die alte Dame schien keinen Tag älter geworden zu sein.
    Das graue Haar war nun fast weiß geworden, aber noch immer war es dicht und zu einer modischen Kurzhaarfrisur geschnitten. Nur wenige Falten um die Augen herum verrieten ihr Alter. Die straffen Wangen mit ihrer gesunden Farbe konnten es immer noch mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau aufnehmen. Einzig die dünnen Finger, mit denen sie Lara über das Haar strich, waren knochiger als in Laras Erinnerung, aber sie wirkten gepflegt und waren in einem blassen Rot lackiert worden.
    »Nun lass mich doch auch mal das Mädchen begrüßen«, brummte ihr Großvater, der die Stufen herabgekommen war, um Lara ebenfalls zu umarmen. Maximilian Hermsdorf war ein großer Mann, der seine Enkeltochter um Haupteslänge überragte. Obwohl er nun schon vierundachtzig Jahre alt war, hielt er sich noch immer aufrecht – und er trug noch immer seine weißen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.
    Laras Großvater war ein Unikum. Mit seinen ausgeblichenen Jeans und dem karierten Baumwollhemd wirkte er wie ein alternder Holzfäller und keinesfalls wie ein hoch angesehener Professor für Geschichte und Okkultismus.
    Seine weißen Augenbrauen zogen sich missbilligend nach oben, als er Lara auf Armeslänge entfernt hielt und ihr in die Augen sah. »Das Kind ist zu dünn«, meinte er lapidar. »Aber daran werden wir etwas ändern. Deine Großmutter hat einen Apfelstrudel gebacken und dazu gibt es warme Vanillesoße.«
    In diesem Moment nahm Lara den herrlichen Geruch wahr, der aus dem Haus drang. Außer einem Sandwich, das ihr ihre Mutter am Bahnhof noch in die Hand gedrückt hatte, hatte sie nichts mehr gegessen und nun merkte sie, dass sie wirklich hungrig war – das erste Mal, seit Bens SMS …
    Martha griff nach Laras Hand und zog sie mit sich. »Komm rein, Lara, und fühl dich wie zu Hause. Max, du nimmst den Koffer.«
    Aber der ist ganz schön schwer, wollte Lara erwidern, doch dann sah sie, wie ihr Großvater sich mit erstaunlicher Kraft den Trolley schnappte und ihn ins Haus trug.

3.
    Sie gingen in die Küche. In der Mitte des Raumes stand ein schlichter Holztisch, um den sich vier Stühle gruppierten. Ein altertümlicher Herd mit eingebautem Backofen teilte sich eine Seite der Wand mit der Spüle. Darüber hingen Schränke, in denen
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