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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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will er nicht wirken. Er schlendert weiter und lässt den Läufer an sich herankommen; er kennt den älteren Mann im weißen Trainingsanzug schon, das Wort Jogger scheint unpassend für ihn, besser wäre Dauerläufer; dieser Dauerläufer läuft nachts am Parkrand entlang, eine vertraute Begegnung für alle, die manchmal zur selben Zeit unterwegs sind. Warum läuft er in der Nacht? Läuft er nach spätem Feierabend (ein Kellner, ein Busfahrer)? Vor frühem Arbeitsbeginn (Bäcker, Arbeiter)? Oder ist er ein nachtsüchtiger Rentner? Als August überholt wird, beschließt er, sich Ort und Zeit einzuprägen. Am Wegrand steht ein Briefkasten, auf den jemand geschrieben hat:

    Augusts Armbanduhr zeigt zwei Uhr achtunddreißig; demnächst will er noch einmal kommen und überprüfen, ob der Dauerläufer wieder um zwei Uhr achtunddreißig an diesem Briefkasten vorbeiläuft. August sieht ihm nach, die Bewegung des Läufers wirkt so gleichmäßig, als liefe er nicht nur nachts, sondern in einem fort, rund um die Uhr in einer einzigen gleichförmigen Bewegung. So, denkt August, würde auch er gern gehen; aber nur vielleicht; vielleicht möchte er auch anders gehen, rum: stehen bleiben und schauen zwischendurch – aber dabei doch in vollkommenem, nie unterbrochenem Gehen: wenn das ginge.
    Der Dauerläufer biegt ab, sodass er weiter am Rand des Parks entlanglaufen kann. Als August zur Ecke kommt, sieht er etwas entfernt einige Autos stehen, mit stumm kreisenden Blaulichtern; ein Polizist spannt rot-weißes Absperrband zwischen Bäumen, ein anderer hält eine Handvoll Schaulustiger zurück. August wundert sich, wie unverhohlen diese Leute glotzen, keiner verbirgt seine Neugier, sie kommen August wie Tiere vor, ihr Glotzen ein Fressen; er schaut ja auch gern, aber doch nicht so, er will kein Schaulustiger sein, deshalb betrachtet er lieber Pollen auf dem Boden, Fahrgäste in Bussen, Gekritzel auf Briefkästen. Der Dauerläufer hat die ganze Szenerie nicht beachtet, aber anders als August, makellos: Er ist auf die Fahrbahn ausgewichen und vorbeigelaufen, als kenne er keine Versuchung, schaulustig stehen zu bleiben.
    Je näher August der Absperrung kommt, desto stärker wird der Geruch von feuchter Erde. Am Wegrand stehen reglose Bagger und Bauwagen, daneben sind Männer an einem Erdhügel zugange, im Licht eines Scheinwerfers räumen sie mit Schaufeln und Händen abgebrochene Äste und entwurzeltes Gebüsch beiseite. Da fällt August auf, was er gerade macht: Er hat die Glotzer angeglotzt, um sich über sie zu erheben, und tut es ihnen jetzt gleich. Er zieht sich weg von der Schaulust und geht nach Hause.

    Die Stille der nächtlichen Wohnung: auf dem terrakottagefliesten Südbalkon Oliven- und Zitronenbäumchen in der Dunkelheit, Einbauküche mit Induktionsherd und Kaffeevollautomat, Bad mit Fußbodenheizung, ruhiges Schlafzimmer, großes Wohnzimmer. August inspiziert seine Räume: hochwertig saniert (wer mag hier vor der Erneuerung gelebt haben?), neues Klötzchenparkett, weiße Wände, etwas spärlich eingerichtet, wie dünnbesiedeltes Land: kratzerloses Ledersofa, Regal mit alphabetisch geordneten Büchern, kleiner Fernseher, große Musikanlage, sehr viele CDs, das Blüthner-Klavier mit eingestaubten Noten darauf (Chopin, Schubert, Debussy) und der angebrochenen Packung Baldriandragees, muffiger Geschmack, und nutzlos, wie all die guten Ratschläge: kein Alkohol mehr, stattdessen dunkle Schokolade, vor dem Zubettgehen Rooibos-Tee, warme Socken, onanieren; oder ein paar Schritte an der frischen Luft. Dieses Mittel ist ihm ausgeufert. Er ist schon immer spät zu Bett gegangen, zu Studentenzeiten hat er nachts stundenlang Musik gehört, Sonaten und Streichquartette von Beethoven und Schubert, Lieder von Strauss, Mahler, Berg, auch Bachkantaten, Ligeti, Zahlenstücke und Vogelgesänge von Messiaen; doch dann hat er, um seine Arbeitsfähigkeit besorgt, Susannes Rat aus London befolgt und ist am Abend um den Block gegangen, um besser einzuschlafen; bald hat er angefangen, morgens früher aufzustehen, um vor der Arbeit einen Spaziergang zu machen; die Gänge sind länger geworden und länger, erst abends, dann morgens, und die Zeit dazwischen immer kürzer.
    Und jetzt? Musik hören, vier letzte Lieder? Freundlich die gestirnte Nacht wie ein müdes Kind empfangen … er sitzt auf der Ledercouch, die nackten Füße auf dem Parkett, auf dem Tischchen der Bildband Warenhäuser , die monatliche Rechnung der Putzfrau: den gesamten Betrag
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