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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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ausruhen vom Ausruhen. Da hat ihn schon jemand bei der Hand genommen, und jemand anders bei der anderen Hand, und August sagt: Gut, gehen wir!, und geht los, und es geht ganz leicht, die maskierte Frau geht auf schwerelose, schwebende Weise voran oder nebenher. Aber August hat ein unstimmiges Gefühl, darum geht er zwar mit luftigen Schritten, aber so, als ob er bloß wen nachmachen würde, wie unter Vorbehalt. Ihn beschleicht ein schlechtes Gewissen; wenn nur keiner mitkriegt, dass er nicht richtig bei der Sache ist, bei so einer ernsten Sache! Aber die maskierte Frau merkt es, sie sagt: Und jetzt hast du es auf einmal so eilig, warum? August sagt: Wieso eilig, es ist doch abgemacht. Der ganze Zug ist stehen geblieben. Die Frau sagt: Langsam. Manchmal passieren Fehler. August sagt: Ach so? Aber hier doch wohl nicht. Wenn ich darüber nachdenke, passt eins zum andern. Das sagst du!, sagt die Frau. Lass uns jetzt gehen!, sagt August, macht sich los und reicht der Frau seine Hand. Die Frau scheint verärgert zu sein, sie schüttelt den maskierten Kopf, aber sie streckt August ihre Hand entgegen, und mit was für einer fließenden, harmonischen Bewegung, und so eine wohlgeformte Hand. Gerade als August sie ergreifen will, reißt es ihn am Kragen und zieht ihn fort, schleudert ihn im Kreis, auf und ab, er fliegt, bis er eine Richtung ahnt, aber er will woandershin, er wehrt sich, zappelt, doch es zieht ihn weiter, und da, wo er hinfliegt, ist so ein furchtbar lautes Geräusch, ein niemals aufhörender Schrei, wie eine endlose Linie, und es zieht, zieht ihn, gegen seinen Willen, immer weiter, er erkennt nichts um sich, weiß nur die Richtung und weiß unbedingt, dass es nicht die ist, in die er will

    «Stehen Sie bloß nicht auf», sagt der Autofahrer, «bleiben Sie bloß liegen.» Aber August steht auf. Wieso ist da noch immer dieses laute Schreien? «Warum gehen Sie nur einfach so auf die Straße», jammert der Autofahrer, «Sie müssen doch gucken, Mensch.» August sieht sein Haus. Davor zieht ein Mädchen seinen kleinen Bruder auf dem Schlitten über den fast schneefreien Gehweg. Sie ruiniert ja die Kufen. Aber die Kinder setzen ihren Weg fort; anders als die Schaulustigen, die August erst jetzt bemerkt, beachten sie die Unfallszenerie nicht, sie sind ganz damit beschäftigt, den kreischenden Schlitten voranzuzerren. August geht zur Haustür, es ist ein Torkeln. Er schaut übers Dach, die Sonne steht noch immer still. Sein eigenes Haus sieht er jetzt in großer Schärfe und Klarheit, so, als sähe er es zum ersten Mal. Er sieht, wie es war, bevor er hierherkam, und wie es nach ihm sein wird: Alles sieht er zugleich, ein unbestimmbares, umfassendes Bild. Er schaut auf die Uhr, der Sekundenzeiger zittert am selben Strich. Da pocht August mit dem Knöchel aufs Gehäuse, der Zeiger setzt sich, mit einer leichten Verzögerung, in Bewegung, er muss sich in seinen Takt erst wieder hineinfedern. Um August ist überall ein Ruckeln, Stottern, Stocken, ein Stehenbleiben und Vorwärtsspringen. Als er seinen Fuß auf den Gehweg setzt und die Steinchen unter der Sohle spürt, ist er ganz sicher, alles läuft wieder. Die Zeit ist nicht stehengeblieben, sie hat nur kurz geklemmt. Der Autofahrer ruft ihm etwas nach. Aber August ist schon in den Hausflur getreten. Erst oben, vor seiner Wohnungstür, die Hand schon am Türknauf, denkt er: Ach, es ist alles schön.

Über Albrecht Selge
    Albrecht Selge, geboren 1975 in Heidelberg, aufgewachsen in Westberlin, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und Wien. 2004 war er Finalist beim Literaturwettbewerb Open Mike, er nahm am Klagenfurter Literaturkurs und an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums teil. Für seine Arbeiten erhielt er unter anderem das Autorenstipendium des Berliner Senats. Albrecht Selge lebt als freier Autor mit seiner Frau und zwei Kindern im Berliner Bezirk Moabit. «Wach» ist sein erster Roman.

Über dieses Buch
    Er kann nicht mehr schlafen, muss immerzu gehen: abends, nachts, immer länger, immer weiter. August Kreutzer sucht Erlebnisse, sammelt Bilder und die dahinter verborgenen Geschichten – in heruntergekommenen Ladenzeilen, in Eckkneipen, auf Friedhöfen und auf dem Weg zur riesigen Mall, wo er arbeitet. Dort, in einer künstlichen Welt ohne schlechtes Wetter, kreiert er Einkaufserlebnisse. Ruhe findet er nur bei Manja, der Crêpe-Verkäuferin, die ihm Süßes serviert und Geschichten aus ihrem Leben. So vergeht der Sommer zwischen immer
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