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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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August erinnert sich, dass es vor zehn, fünfzehn Jahren hieß, der Markt sei überhitzt, die Großkinos sind trotzdem weiter wie Pilze aus dem Boden geschossen; aber das Massensterben ist ausgeblieben, nur ein paar wurden geschlossen und liegen jetzt wie vertrocknete Fettflecken im Stadtbild. Im ersten Stock, wo einmal Popcorn verkauft wurde, geht ein Fuchs. August fühlt sich beschwert, erschöpft, krank vom langen Dämmern in Gabors Hof, aber es ist eine angenehme Erschöpfung, so, als habe er sich dem Schlafen wieder angenähert. Seine Füße sind im Schnee ganz warm; und der Schnee, noch gar nicht schmutzig geworden, schmilzt bereits, die Uferböschung liegt schon frei, der angetaute Schnee ist wahrscheinlich gleich ins Wasser gerutscht. Tauben und Spatzen suchen nach Futter, Krähen zerren Abfall aus Mülleimern, eine alte Frau hängt einen Meisenknödel ins Gebüsch. August merkt, dass er Hunger hat, und mehr noch Durst, er stellt sich vor, mitten im Schneematsch zu verdursten. Seine Wohnung ist ja schon nah, er freut sich auf Tee, ein heißes Bad, trockene Kleidung. Da sieht er, dass die Bank mit Flussblick wieder belegt ist. Tüten, Rucksack, Einkaufswagen stehen ums Lager, der Obdachlose schläft, wer weiß, wovon er sich erholen muss. August beneidet ihn um seine Ruhe. Aber der Schlafsack ist bis zu den Knien offen, die Wolldecke liegt auf dem Boden, wahrscheinlich ist sie nachts heruntergefallen. Trotz der Sonne muss dem Mann kalt sein. Der Reißverschluss des Schlafsacks ist kaputt. August hebt die Decke vom Boden auf und breitet sie über den Schlafenden, vorsichtig, um ihn nicht zu wecken.

    In Augusts Straße ist schon geräumt und gestreut, hier geht das immer schnell. Der Splitt piekst unter seinen Fußsohlen. Aus der Ferne hört er die Geräusche der Räumfahrzeuge, laut, aber beruhigend, wie von einer großen schnurrenden Maschine, die die Stadt sicher behütet. Ein Rollstuhlfahrer kommt August entgegen, er hebelt sich mit den Armen vorwärts; sein Handy steckt unter der Mütze, direkt am Ohr, und während er vorsichtig den Bordstein hinunterrollt, setzt er sein Gespräch fort.
    Als August auf der anderen Straßenseite sein Haus sieht, kann er nicht schnell genug hinüberkommen. Aber mitten auf der Fahrbahn schaut er hoch übers Dach, weil ihm etwas komisch vorkommt, und tatsächlich, die Sonne scheint stehengeblieben zu sein. Er schiebt den Ärmel zurück, um auf seine Armbanduhr zu schauen, der Sekundenzeiger zittert am Zwölferstrich, ohne sich weiterzubewegen. Da macht es rumms, und August denkt klar und deutlich: Ich bin überfahren. Sofort hat sich eine Menschenmenge um ihn versammelt, einige greifen nach seinen Händen, als wollten sie mit ihm tanzen, und vom Ende der Straße, aus der Richtung der großen Verkehrsader, nähert sich eine Frau mit einer Maske. Jetzt müsste doch eigentlich sein Leben an ihm vorüberziehen, sein ganzes Leben in einem rasend schnellen Bilderstreifen. Stattdessen erscheint nur ein einziges Bild, jämmerlich und unpassend: Er steht auf einer Wiese, die er nicht kennt, hier ist er noch nie gewesen. Was hat er in der Hand? Einen großen Bogen, größer als er selbst. Er spannt und schießt und trifft genau ins Schwarze. Aber es ist das Schwarze auf der falschen Zielscheibe, zuerst hat er es gar nicht bemerkt. Also schießt er noch einmal, und wieder, wie von einer magischen Kraft gezogen, nimmt der Pfeil dieselbe schiefe Bahn und trifft ins falsche Schwarze. All das ist nicht hintereinander passiert, sondern im selben Moment, alles Geschehen liegt in einem einzigen eingefrorenen Bild. Die maskierte Frau ist vor ihm stehen geblieben. Wer ist sie, was will sie? Aber nein, er weiß es ja. Er sagt: Muss das sein? Jetzt? Und so? Die maskierte Frau sagt: Stell dich nicht an. Überfahrenwerden ist nichts Ungewöhnliches, vor allem für Fußgänger, die nicht aufpassen. August sagt: Sonst habe ich immer aufgepasst. Ich bin erst sechsunddreißig, ich habe noch einiges vor. Die Frau sagt: Es kommt nicht darauf an, was du noch vorhast. Es sterben noch viel Jüngere bei Unfällen, sogar Kinder. Wusstest du das etwa nicht? August sagt: Doch, doch. Die Frau sagt: Außerdem, was hast du denn vor? August weiß gar nicht, wo er beginnen soll; so viel, sagt er, so viel! Aber plötzlich ist er sich nicht mehr sicher. Die Frau erscheint ihm resolut, aber freundlich, genau sein Typ. Warum sollte er nicht mitgehen? Es wird angenehm sein, nichts zu tun, als auszuruhen; nur ausruhen und
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