Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
Vom Netzwerk:
geht wieder in den Wald. Die kahlen Bäume halten den Nieselregen etwas ab, die Ruhe ist angenehm, es wird schon dunkel, es ist doch erst vier. Fliegt dahinten schon eine Eule? Aus der Ferne ist ein Geräusch zu hören, ein gleichmäßiges leises Rauschen, wie Sphärenklang: Dem folgt August. Dann geht er neben der Autobahn, er weiß nicht, wie lange, immer in der Deckung des Waldes, kommt an einem Rastplatz vorbei, auf dem ein paar LKWs stehen, und schließlich zu einer Abfahrt, die auf einen großen Parkplatz führt. Direkt dahinter beginnt ein Dorf, und das ist nun mal ein gelungenes Dorf: Die gepflasterte Dorfstraße den Fußgängern vorbehalten, pulsierendes Leben in Laubengängen und unter antiken Gaslaternen, gleichmäßig ausgeleuchtet der Anger, ein romanisches Kirchlein, urige Gasthäuser, lila angestrahlte Mauern und Wehrtürmchen, spitzgiebelige Fachwerkhöfe, auf deren Schornsteinen leere Storchennester aufs nächste Frühjahr warten: ein Dorf wie aus dem Bilderbuch. Aber aus was für einem? Die Fußgänger tragen pralle Tüten. Hinter allen Fenstern sind Geschäfte, Herrenausstatter in den Gasthäusern, Damenbekleidung in den Bauernhäusern, italienische Schuhe in der Kirche, Businesstextilien im Wehrtürmchen. August weiß Bescheid, Manager kaufen hier Oberhemden und Anzüge im Dutzend, für Berufsanfänger lohnt eine mehrstündige Anfahrt schon bei zwei Garnituren, damit begnügen sich Russinnen nicht, Araberinnen packen sich schon mal den Privatjet voll, Kunden im Designer Outlet Village haben ein hohes Einkommen und Markenbewusstsein, was früher Fabrikverkauf war, ist heute Smart-Shopping, hochwertige Markenartikel aus Drittländern in ebenerdigen Geschäften, Restposten und Mode aus dem letzten Jahr mit bis zu minus siebzig Prozent (last but not least ein Katalysator fürs lokale Wirtschaftsumfeld). Da er schon mal hier ist, könnte er sich ein paar Anzüge kaufen, er wird ja nicht ewig krankgeschrieben bleiben. Gerade will er den Wehrturm betreten, als sein Telefon klingelt: unbekannter Anrufer.
    «Mißfelder, Internetfahnder. Wir haben vor einer Weile ein Gespräch geführt, Herr Kreutzer, Sie erinnern sich? … Die Recherche hat sich schlussendlich als relativ unproblematisch herausgestellt. Der Absender der betreffenden Äußerungen hat scheinbar keine Vorkehrungen zur Verschleierung seiner Identität getroffen. Erstaunlich, nicht wahr?» «Ja, erstaunlich», sagt August, und nichts weiter. «Und? Möchten Sie nicht erfahren, wer der Absender ist?» «Doch», antwortet August langsam, «doch, wer ist der Absender?» «Die betreffenden Beiträge sind alle aus einem Internetcafé in der Innenstadt abgesendet worden. Der Urheber scheint sich häufig dort aufzuhalten. Tragen Sie Schreibzeug bei sich?» «Ja», sagt August und schreibt nicht auf, was Mißfelder diktiert. «Und», fragt Mißfelder schließlich, «möchten Sie Anzeige erstatten?» August zögert. Die Adresse hat er noch gehört. Er würde sich gern die ganze Angelegenheit vom Hals schaffen, aber irgendetwas hindert ihn, und so bedankt er sich bei Mißfelder für die Mühe, er wolle eine Nacht darüber schlafen. Kaum ist das Gespräch beendet, geht August zum Taxistand, und schon ist er

    auf dem Rückweg in die Stadt. Der Taxifahrer, ein Inder oder Pakistaner, ist muffelig, vielleicht hat er auf eine reiche Russin oder Araberin gehofft. August schaut vom Rücksitz zur Windschutzscheibe, aufs Steigen und Sinken der Scheibenwischer; wie schön wäre diese gleichmäßige Bewegung, wenn die Wischer nur nicht so übers Glas schubbern würden, der Taxifahrer hat für das bisschen Geniesel eine zu hohe Wischstufe eingestellt, und trotzdem wird die Scheibe immer wieder nass.
    Die Fahrt führt in ein heruntergekommenes Innenstadtviertel. Während das Taxi an einer Ampel wartet, betrachtet August einen Mann, der vor einem Shisha-Lokal sitzt und aus einer schmalen Dose trinkt. Der Energy-Drink ist ein Kontrast zur Trägheit, die der Mann ausstrahlt, aber vielleicht geht es gerade darum, vielleicht will der Mann sich mit letzter Anstrengung aufputschen gegen seine endgültige Versteinerung. Hinter einer Kreuzung fährt der Inder oder Pakistaner auf einen Behindertenparkplatz, unterbricht das Taxameter und holt einen Stadtplan aus dem Handschuhfach. August denkt, wie anders muss einem Taxifahrer die Stadt erscheinen: als ein Stadtplan, der Gestalt angenommen hat; auf unendlicher Fahrt zu sein durch eine Stadt ohne Hinterhöfe und Treppenhäuser.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher