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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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Wortlos packt der Fahrer den Plan weg, stellt das Taxameter wieder an und fährt weiter.
    Das Internetcafé liegt im Souterrain eines Altbaus. Auf einer Tafel neben dem Eingang stehen die Preise für Auslandstelefonate von Albanien bis Zimbabwe, für Wassereis, Bier und Fotokopien. August steigt die Stufen ins Café hinab. Am Empfangstresen kauft er von einem Araber eine halbe Stunde und betritt den stickigen Computerraum. Die Bildschirme sind durch Sichtschutzwände voneinander getrennt. August geht langsam durch die Reihen, schaut sich die Rücken der Gäste an, fast nur Männer, und schielt auf die Bildschirme: Onlinespiele, arabische und asiatische Nachrichtenseiten, E-Shopping, Musikbörsen, Foren und Netzwerke, ein Langhaariger spielt Online-Schach. August setzt sich in die hinterste Ecke, von wo er jeden Neuankömmling sehen kann, und lässt den Blick durch den Raum schweifen, ob er etwas übersehen haben könnte. Gelegentlich aufschauend, liest er Nachrichten, es wird über die Rücknahme einer Reform diskutiert, eine Leiche wurde gefunden. Seine E-Mails: ein nigerianischer Geschäftsmann schreibt ihm, eine einsame Russin, ein Potenzmittelversand, ein Studienfreund hat eine Konzertkarte übrig (Kurtág und Schumann), jemand hat einen lustigen Link geschickt; Xerxes erkundigt sich nach seinem Befinden, er solle sich, natürlich, nicht bedrängt fühlen, sich in Ruhe auskurieren, aber: Wenn er wieder da sei, seien Treffen – täglichste Treffen erforderlich, anbei ellenlanges Konzeptpapier, highly confidential, Anabasis III-5 , mit der Bitte um Feedback. Die Suchmaschine findet august kreutzer jetzt über fünftausendmal. Als die halbe Stunde um ist, geht August langsam zum Ausgang, lässt seinen Blick dabei noch einmal durch die Reihen wandern und verlässt das Internetcafé.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat ein Bäcker noch offen, August kauft einen Pott Kaffee und stellt sich an einen Stehtisch, von dem aus er durchs Fenster zum Internetcafé hinübersehen kann. Er verbrüht sich die Zunge und überlegt, mit welcher Geschichte er Manja begrüßen soll, wenn sie in drei Tagen aus Russland zurückkommt; vielleicht mit der, die ihm vor Jahren ein Gaststudent aus Frankreich erzählt hat: Ein junger Pole namens Pawel hatte sich nach dem Ende des Kommunismus in den Kopf gesetzt, das Fach Architekturen der Welt zu studieren, ein Fach, in dem es gleichermaßen um Kathedralen wie Lehmhütten gehen sollte, um Wohnsilos und Luxusappartements, Bambushütten und Iglus. Er fand heraus, dass man dieses Fach nur in Toronto und in Grenoble studieren kann, also fuhr er per Autostopp von Krakau nach Grenoble. Im Gepäck hatte er ein Schild, das jemand für ihn geschrieben hatte: Je ne parle pas français, mais polonais et allemand et je cherche travail, égal quoi. Mit diesem Schild lief er durch Grenoble, setzte sich in Buswartehäuschen und auf Parkbänke. Nach einer Weile sprach ihn ein älterer Mann an und bedeutete ihm mit Händen und Füßen und Brocken von Deutsch, er solle auf seinen Hof kommen und ihm bei der Apfelernte helfen, dafür bekomme er Kost, Logis und Französischunterricht. Pawel ging mit und blieb auch nach der Apfelernte, ein Jahr lang. Danach studierte er Architekturen der Welt. Als er fertig war, wusste er nicht, was er nun anfangen sollte, und ging nach Paris, wo er schließlich in der Wohnung eines alten Mannes im Bastille-Viertel landete. Dieser Mann, der Großvater des französischen Gaststudenten, hatte als Paläontologe gearbeitet und war, schon im Rentenalter, nach dem Tod seiner Frau katholischer Priester geworden. Jetzt ließ er junge Leute bei sich unterkommen, als Gegenleistung mussten sie einmal am Tag Essen kochen. Pawel und der Priester verstanden sich gut, Pawel blieb auch hier ein Jahr, sie gingen jeden Tag gemeinsam zur Frühmesse. Das Hobby des Priesters waren historische Redewendungen und Etymologien, davon brachte er Pawel viel bei, und er vermittelte ihm den Sinn für gehobenes Französisch. Schließlich sah Pawel ein, dass er einen Beruf ergreifen musste. Er kehrte nach Polen zurück, wo er bis heute als Vertreter einer französischen Firma für Gewächshäuser arbeitet. Ist das eine vernünftige Geschichte, fragt sich August, während er noch mehr Zucker in den sauren Kaffee rührt, ist es überhaupt eine Geschichte? Soll er aus den Gewächshäusern Shoppingcenter machen, damit es eine Geschichte wird?
    Da bemerkt er auf der anderen Straßenseite jemanden, den er
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