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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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Name Auer entgegen, in hellem Weiß, mit Kreide auf die Wohnungstür geschrieben; und jetzt bemerkt August auch, hinter der Hoftür, einen verbeulten Briefkasten, das Türchen halb hochgebogen, vollgestopft mit Post, vor allem Werbung, obenauf steht, an die Wand gelehnt, ein Brief an Gabor Auer, aus grobem Recylingpapier, offiziell aussehend. Was denken sich die Postboten nur, amtliche Briefe einfach im Hausflur abzustellen? Und warum leert Gabor seinen Briefkasten nicht? August tritt in den Hof und schaut sich die Parterrefenster an; alles ist dunkel, drinnen nichts zu erkennen. Auf einmal geht hinter dem Fenster, in das August gerade späht, Licht an, und Gabors Gestalt erscheint. August duckt sich sofort. Wo war er denn, während August das Treppenhaus hochgestiegen ist? Hat er im Dunkeln gestanden, am Eingang der Wohnung? Hat er ihn, seinen Verfolger, etwa beobachtet? August krabbelt in die Deckung eines aufgequollenen Sofas. Als er wieder ins Zimmer lugt, ist er beruhigt: Gabor benimmt sich nicht, als hätte er ihn bemerkt. Er geht umständlich, die Füße über einen Kleiderhaufen setzend, zu einem elektrischen Heizkörper, der in der Mitte des Zimmers steht, und knipst ihn an. Warum heizt er bloß so teuer, statt den Kachelofen dort in der Ecke zu benutzen? Die Ofenklappe ist nicht zu sehen hinter Papierstapeln und Aktenordnern, grüne Studienbuchseiten sind im Zimmer verstreut, in einer Ecke liegt eine Matratze auf dem Boden, daneben steht eine Hantelbank, Bücher liegen herum, Bakunin, Jüngers Pariser Tagebuch , ein Pornoheft, eine Broschüre über vegane Ernährung. Gabor setzt sich, mit dem Rücken zum Fenster, an ein Tischchen und schaltet einen alten Computer an, der schleppend hochfährt. Reglos wartet Gabor, dann wählt er sich mit einem Programm, das August nicht kennt, ins Internet ein, und äußerst langsam, Linie für Linie, baut sich ein Bild auf, ein Schwarz-Weiß-Bild, mühsam (kein Wunder, hier wird es kein Breitband geben, Gabor hat sich übers Telefon eingewählt, fast verwunderlich, dass es überhaupt einen Anschluss gibt), nach einer Ewigkeit ist noch immer nicht mehr zu sehen als ein Streifen Himmel. Gabor wird wütend, er versetzt dem Rechner einen Tritt, dann steht er auf und verlässt das Zimmer. August guckt zu, wie die Fotografie sich weiter zusammensetzt: Der Himmel wird breiter, volle Baumkronen erscheinen darin, dann Köpfe von Menschen, Männern und Frauen. Sie stehen auf Lastwagenflächen, die Männer halten die Frauen fest, die Frauen tragen Uniformen, sie haben Stricke um den Hals, und rund um die Lastwagen steht eine große Menschenmenge. Da kommt Gabor wieder herein, er reißt eine Plastikfolie auf und nimmt ein Salatherz heraus, das er sich hastig in den Mund stopft. Ohne Salz!, denkt August, ohne Öl! Gabor setzt sich an den Rechner und zieht aus der Manteltasche eine Tafel Schokolade, öffnet sie (dunkle Schokolade) und beißt hinein. Kauend schaut er sich das Hinrichtungsfoto an, dann öffnet er weitere Bilder, Großaufnahmen von gehängten Frauen, einige tragen Uniformen; später die Aufnahme eines Asiaten mit freiem Oberkörper, der Mann schaut mit feindseligem Blick in die Kamera, sein Hals ist mit Eisen umschlossen, eine Garrotte. Daneben posieren drei ernst blickende Männer mit Anzügen und runden Hüten; gleich werden die Anzugträger den Halbnackten erwürgen. Gabor legt den zerschlissenen Mantel ab und zieht Pullover und T-Shirt aus. Sieben Jahre ist August mit ihm, dem Unscheinbaren, zur Schule gegangen. Haben sie je ein Wort gewechselt? Gabor hat zu den Stillen gehört, aber er war kein Ausgestoßener, er hat Freunde gehabt, wenn auch keine aus der Mitte der Klasse, sondern unscheinbare, wie er selbst einer war. Sogar um ihn auszustoßen oder zu piesacken, war er zu unscheinbar, er war wie ein Phantom, denkt August und misstraut diesem Gedanken sofort: So wie Gabor ihm jetzt den nackten Rücken zeigt (war er schon immer so muskulös?), mit der rechten Hand die Maus bedient und die linke, für August nicht zu sehen, vor sich hält, da hat sich in der Erinnerung Gabors Unscheinbarkeit längst verwandelt, aus einer belanglosen Unscheinbarkeit ist eine bedeutungsvolle Unscheinbarkeit geworden, eine unheimliche Unscheinbarkeit, aus dem Langweiler ein Geheimnis. Aber womit habe ich, ausgerechnet ich, fragt sich August, die Ehre verdient, dass er mich so nachhaltig im Gedächtnis behalten hat? Hab ich es mir selbst eingebrockt, trägt er mir etwas nach? August
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