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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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Körper.
    Eine Siedlung aus Einfamilienhäusern, poplige Bastionen, an den Laternenpfählen kleben Zettel: Nachhilfe Mathematik und Physik, Englisch ab 3, Grundkurs Chinesisch , die Telefonnummern alle schon abgerissen: bloß nicht den Anschluss verlieren, lernt das dreijährige Kind kein Englisch, ist es verloren, lernen die Eltern kein Chinesisch, sind sie verloren, August meint, die Angst zwischen den Reihenhäusern schwirren zu sehen. Dann stockt er: wessen Angst? Nur er ist hier unterwegs.
    Am Rand der Siedlung kommt aus einem Haus wütende Schrammelmusik. Schwarzgekleidete Teenager stehen auf dem Gehweg im Geniesel, sie rauchen und trinken mitgebrachte Getränke. August beäugen sie ohne Interesse, auch ohne Misstrauen, trotz Anzug und Krawatte. August zahlt beim Kassenmädchen und geht hinein. Drinnen, zwischen den Teenagerkörpern, ist es schwülwarm. Enigmatic Death Trash stehen auf der Bühne und kreisen im Viervierteltakt mit den Köpfen, ein junger Mann mit schwarzgefärbten Haaren, in deren Scheitel das Aschblond schon nachwächst, singt mit aufgerissenen Augen:
Dornröschen was a pretty girl
Her destiny she faced when young:
Fleischwolf!
    Fleischwolf!, echoen die Teenager. August geht an die Bar und bestellt ein Bier. «Hast du einen Ausweis?», schreit das Barmädchen, bevor sie die Flasche rausrückt.
She stepped into a dark dark house
Beyond the door awaited her:
Fleischwolf!
    Fleischwolf!
A young girl far away from home
Her path to gallows sadly led:
Fleischwolf!
    Fleischwolf! August denkt, er macht ja dasselbe wie Enigmatic Death Trash: Wenn er rumgeht, um Zauberbilder und Zauberorte zu finden wie in der Kindheit, müssen die Bilder und Orte immer extremer werden; und auf einmal erscheint es ihm sinnvoll, mit drei schon Englisch zu lernen.

    Am nächsten Morgen liegt der erste Schnee, eine dünne, aber dichte Decke. August geht durch einen kleinen Park. Warum ist hier ein Park, in der Vorstadt, nur einen Steinwurf vom großen Wald? August kommt sich vor wie eingeschlossen in einer Schneekugel, die jemand in freier Natur verloren hat. Er holt seinen Taschenkalender hervor, um das Datum des ersten Schneefalls einzutragen; seit fünf Wochen und vier Tagen hat er nicht geschlafen. Der Schnee riecht nach Schnee, der Schnee klingt nach Schnee, er polstert den Raum, legt sich über alle Geräusche. Da entdeckt August auf der weißen Decke leuchtend orangefarbene Krümel. Als er sich bückt, erkennt er Paprika-Chips. Kurz darauf sieht er einen älteren Mann, der sich im Gehen Chips in den Mund steckt. Das scheint August das herzzerreißendste Bild der Welt zu sein. Der Mann wirkt, als streue er eine Spur in den Schnee, um später seinen Weg zurück zu finden, verliefen sich im Wald , summt August, o Hänsel, welche Not, sie will dich braten im Ofen braun wie Brot .
    Der Nieselregen lässt den Schnee im Handumdrehen schmelzen. August geht in den Wald hinein, der hier dünn und lichtdurchlässig ist und trotzdem dunkel. Er geht von der Stadt weg, mehrere Stunden. Dabei verlieren sich Nervosität, Kribbeln, Kopfweh, die Haut strafft sich. Einmal hält er an, um in eine verlassene Kaserne einzusteigen. Auf dem Gelände entdeckt er Spuren von Trinkgelagen und heimlichen Partys, auf einer feuchten Wiese stehen Hürden und Tunnel, vielleicht ein Hundeparcours, aus der Ferne hört man das Knattern von Motocross. August klettert durch ein zerschlagenes Fenster, geht leere Flure entlang, eine Treppe hoch und gelangt in einen Kinosaal. Vorn hängt eine große Leinwand, an den Sitzen sind Aschenbecher befestigt, in denen noch Asche klebt, unter einer Schicht von Staub. August versucht, in sich Interesse an dem toten Filmsaal und der toten Kaserne zu wecken, aber es gelingt ihm nicht, der magische Ort lässt ihn kalt, und als er meint, draußen Motorenlärm zu hören, verlässt er Haus und Gelände, völlig gleichgültig. Später gelangt er in ein Dorf. Es hat keine Form, entlang einer neuasphaltierten Straße stehen dunkle Wohnhäuser nebeneinander, aber kein Bahnhof, keine Geschäfte, kein Gasthaus. Doch am Ende der aufgefädelten Häuser steht eine Backsteinkirche mit warm erleuchteten Fenstern. August klettert auf einen Mauervorsprung und guckt hinein, die Kirche ist gefüllt mit rauchenden und trinkenden Menschen an langen Tischen, es gibt einen Tresen und eine Bühne, auf der eine Band spielt: It’s raining men , klingt es leise durch die Scheibe; ein Dorffest in einer aufgegebenen Kirche, nichts Besonderes. Er
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