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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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nur, und doch, die Vermessungspunkte würden mitwandern. Wenn nun die scheinbar starren Punkte tatsächlich wanderten, statt unbeweglich zu sein, was würde daraus für sein eigenes Leben folgen?

    Der Wind, vorher kaum zu spüren, ist stärker geworden. Breit sitzt es auf Häuserblöcken, vom Morgen glänzt sein roter Bauch, zu seinen Füßen kniet die große Stadt. Niemand kommt zu Fuß zur Mall. Die Menschen werden in Trams und U-Bahnen gebracht und gelangen von der Haltestelle oder dem Bahnsteig ohne Umweg in die gläsernen Drehtüren; oder sie fahren auf breiten Rampen in die Unterwelt hinab, sieben Parkebenen in verschiedenen Farben, und von dort mit Aufzügen nach oben; denn statistisch, weiß August (obwohl er nie mit dem Auto kommt), ist die Tiefgaragenzufahrt der Haupteingang zur Mall.
    Vor den verschlossenen Drehtüren wartet eine große Gruppe junger Männer, einige trinken Kaffee aus Pappbechern. Sie wollen zum Ankermieter Elektronik, heute kommt eine neue Spielkonsole auf den Markt. Beim letzten Verkaufsstart hat der Elektronikmarkt Punkt null Uhr eins geöffnet, da ist die Sache außer Kontrolle geraten, es gab Tumulte, einen Polizeieinsatz, Verletzte, einem Polizisten wurde ein Ohrläppchen abgebissen: ein Albtraum fürs Management, ähnlich dem Pestilenziösen Donnerstag (nein, ganz so schlimm nicht); deshalb geht man heute auf Nummer sicher, es wird erst um acht geöffnet, damit diejenigen woanders hingehen, die so lange nicht warten können. Die Männer sind, wenn nicht Zuhörer, so doch Gesellschaft für den Prediger, eine verworrene Gestalt: kein Penner, sondern eine der alterslosen Figuren, die, jedem bekannt, die Stadt bevölkern, in Bibliotheken, Mensas, Gratiskonzerten. Der Prediger ist morgens immer schon da, er folgt einem anderen Rhythmus als den Geschäftszeiten, erscheint nicht zur Öffnung, sondern zum Sonnenaufgang: spät im Winter, im Sommer in aller Frühe. Er stellt sich auf die Rasenfläche neben dem Eingang; dabei lebt er mit der Sonne und gegen sie, ist es kalt, stellt er sich in den Schatten, ist es heiß, ins pralle Licht. Am Anfang hat das Center-Management ihn verscheuchen lassen, doch er ist immer wiedergekommen, und irgendwann hat man ihn zu dulden begonnen, wie ein unansehnliches, aber auch nicht mehr störendes Möbelstück. Betreten allerdings darf der Prediger das Center nicht, darin kann sich das Management keine Nachgiebigkeit erlauben. Die Besucher gehen an der murmelnden Gestalt vorbei, manchmal flüstert einer dem anderen zu: Der Zausel ist immer hier. Der Prediger spricht die ganze Zeit von Gott, nicht wie ein Wasserfall, eher wie ein Bächlein, das im Tageslauf austrocknet, munter sprudelnd am Morgen, gegen Abend dann stockender, mit heiser werdender Stimme; zwischendurch stößt er leise lateinische Rufe aus, in der Art von Kehrversen: Laudate dominus, murmelt er, laudate dominus, alpha et est o, und schwingt sich bisweilen aus seiner ranzigen Trance zu Höhen auf: Vae tacentibis te de, quoniam loquacis mutis sunt!
    August geht an den Wartenden und dem Prediger vorbei zu einer kleinen Seitentür, die er mit einer Chipkarte öffnet. Durch ein schmales, trotz weißen Anstrichs düsteres Treppenhaus (die eckige Wendeltreppe nennen es die Angestellten) gelangt August zum Büro im zweiten Stock, oberhalb der Ladenpassagen. Alle Schreibtische sind noch leer, still stehen Fotos darauf, kleine Stofftiere und Glücksbringer, die auf die Angestellten warten; die unberührten Ablagen und der einsame Wasserspender tragen eine Art Zauber in sich. August legt seine Tasche ab. Er hat noch Zeit und will hinuntergehen, um in den Gängen zwischen den verschlossenen Geschäften herumzuspazieren.
    Als er den Büroraum verlässt, bemerkt er, dass die Tür zum Chefzimmer offen steht. Drinnen steht der Center-Manager, ein Mann namens Xerxes, und schaut zum Fenster hinaus. Er scheint ihn zunächst nicht zu bemerken, erst als August ein zweites Mal klopft, etwas lauter, dreht er sich um: ein gedrungener Mann mit rundem Kopf, auf dem kurz, aber dicht das angegraute Haar steht; er wirkt wie hineingegossen in den dunklen Maßanzug, die randlose Brille, die glänzenden Kalbslederschuhe; und doch sieht August ihn immer im nächsten Augenblick platzen, so überspannt wirken Rumpf, Hände, Kopf. Heute früh steht in Xerxes’ Augenwinkel eine Träne. Statt den Gruß zu erwidern, weist er wortlos aufs Fenster. August tritt zu ihm. Unten warten noch immer die Männer auf die Öffnung des
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