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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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Centers, neben ihnen macht der Prediger einige Schritte, um vom Schatten in die Sonne zu treten, es wird heiß werden heute.
    «Eben war ich noch glücklich, und jetzt weine ich», beginnt Xerxes mit der ihm eigenen leisen Nachdrücklichkeit. «Sehen Sie, Herr Kreutzer, da unten stehen Männer ohne Zahl, muskulöse Männer, ihre Arme sind die stärksten, ihre Nacken die dicksten, ihre Fitness die höchste, was sage ich: die allerhöchste … und von all diesen Menschen wird in hundert Jahren keiner mehr leben . Denken Sie das, Herr Kreutzer, denken Sie das!» August nickt. Nachdem sie eine Weile nebeneinandergestanden und in die Tiefe geschaut haben,
    durchbricht Xerxes, wie es seine Art ist, mit lautem Händeklatschen die Stille: «Aber jetzt auf an die Arbeit! Nutzen wir unseren Vorsprung gegenüber den Langschläfern! Was haben Sie heute vor, Herr Kreutzer? Ja, ich weiß schon, Trevibrunnen, Frau Avenarius, gut. Sie denken natürlich ans Editorial? Und – binden Sie Ihre Krawatte männlicher!»
    Mit dieser Ermahnung ist August entlassen, überrascht, dass seine Krawatte nachlässig gebunden sein soll, denn in diesen Dingen ist er sorgfältig; wenn er aus der Wohnung geht, spätestens wenn er das Büro betritt, legt er einen Hebel in sich um, es ist wie ein inneres Aufrichten, eine geschmeidige Versteifung von Rücken und Blick zum Zweck der Berufstätigkeit. Der Spiegel zeigt August, dass sein doppelter Windsor heute tatsächlich vermurkst ist. Aber es beunruhigt ihn nicht, dass Xerxes ihn ermahnt hat, an Xerxes’ Wohlwollen für ihn besteht kein Zweifel, er sagt Wir, kennt Augusts Tagesplanung. Mit routinierten Bewegungen bindet August seine Krawatte neu, er weiß, dass eine en passant erteilte Rüge von Xerxes ein Vertrauensbeweis ist. Denn Xerxes ist ein Meister der persönlichen Ansprache, er kennt nicht nur die Mitarbeiter im Center-Management, sondern auch jede Verkäuferin, jede Reinigungskraft, jeden Sicherheitsmann, und jeder spürt, dass er, gerade er, wahrgenommen wird; aber eben nach einem feinen System von Abstufungen, das ihm seinen Rang zuweist. Xerxes’ Anfälle von wilder Schwermut haben seinem Ansehen nicht geschadet, die meisten Angestellten kennen sie bloß vom Hörensagen, denn die Erregungen treten nur vor der Arbeit und nach der Arbeit auf, sehr früh also und sehr spät, denn Xerxes’ Arbeitstag scheint endlos; sichtbar werden sie höchstens in der Mittagspause (wenn er eine macht). Einige behaupten, die Anfälle seien zum ersten Mal nach dem Pestilenziösen Donnerstag aufgetreten. Jedenfalls scheint diese vorhersagbare Unberechenbarkeit Xerxes’ Autorität sogar zu steigern, sie verleiht ihm die Aura des überdimensional Empfindsamen, einer Gefühlskraft, die über Menschenmaß hinausgeht. Auch innerhalb der Künstliche-Paradiese-Gruppe gilt er offenbar viel, er gehört sogar zum Vorstand der Stiftung Vitale Stadt; im Büroklatsch wird er seit langem für höchste Posten gehandelt, es rumort ja im Untergrund, Entwicklungen werden erwartet, Entscheidungen, Investments, Expansion.
    Manchmal stecken Xerxes’ Momente August für kurze Zeit an, so auch an diesem Morgen. Als er nach unten in den Boulevard Istiklal Caddesi kommt, liest er statt Media-Markt Medea-Markt . Im Boulevard Oxford Street liegen in den Schaufenstern des Buchladens aktuelle Ratgeber und Lebenshilfen, Wirf deine Tränen ins Meer und Wenn mein Herz ein Fass wäre, dann hätte meine Liebe keinen Boden . August überlegt, mal wieder ein Buch zu lesen (er hört lieber Musik), und verscheucht den Anflug von Trübsal mit dem Gedanken an den kleinen Laden im Gastro-Walk, wo Manon Lescaut Crêpes verkauft, da freut er sich auf die Mittagspause.
    Seine Schritte hallen im noch unbelebten Raum. Jetzt ist die Leere zwischen Nacht und Tag. Die Putzkräfte sind fortgegangen, die Kunden noch nicht da, die Verkäufer tröpfeln durch Hintertüren in die Geschäfte. Wie Morgentau im Gras liegt in den Gängen das Zitrusaroma, das die Reinigungskolonne hinterlassen hat; erst nachher, wenn die Menschen hereinströmen, werden andere Gerüche den Raum erfüllen, nicht Schweiß natürlich und Ausdünstungen, sondern, versprüht aus Hunderten winziger Öffnungen in der Decke, der Duft von Maiglöckchen; später im Jahr wird es nach Wiesenkräutern riechen, dann nach Moosen und Tannen. Nur in diesen saisonalen Gerüchen sind die Jahreszeiten anwesend, denn Temperatur, Luftdruck, Feuchtigkeit verändern sich nie, in den Gängen der Mall steht
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