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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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Staub in die saubere Luft, aber er geht schon leichter. Auf einer Seite das Haus, in dem er wohnt, etwas weiter mündet die Straße in die große Verkehrsader, wo die Trams abfahren; auf der anderen Seite führt sie zum Fluss mit dem neuen Uferweg, Spazierstrecke der Anwohner, von denen vor zwanzig Jahren noch keiner hier gewohnt hat; ihre Wagen parken vor Weinladen, Kaffee-Rösterei, Pasticceria, Schokoladengeschäft. August geht weder rechts noch links, sondern auf ungefähr, in kleine Seitenstraßen und auf Umwege; obwohl es schon spät ist, will er noch etwas gehen, seit einiger Zeit hat er ein immer stärkeres Bedürfnis rumzugehen. In den Mittagspausen begleitet er nur noch selten die Kollegen zu den Lokalen im Untergeschoss, oft verlässt er das Center und streift durch die umliegenden Straßen. Und in den letzten Tagen und Wochen geht er auch abends, nach der Arbeit, immer öfter und immer länger rum, spaziert durch zufällige Straßen, auf unerwarteten Wegen, über absichtslose Grundstücke. Am liebsten geht er in die Richtungen, wo die Pastellfarben verschwinden und die Häuser grau und die Gehwege uneben und löchrig werden. Er geht jetzt so viel rum, spekuliert er, weil Susanne nicht mehr in der Stadt ist und er deshalb abends nicht mehr zu ihr oder mit ihr ausgeht, oder er geht, weil der Sommer beginnt und er sich im LustschlösschenCenter unwohl fühlt, oder aber er fühlt sich dort unwohl, weil er geht; rumgehen ist für ihn kein Mittel zur Ablenkung, sondern ein ablenkender Zweck, ein Zweck für sich, der mit jedem Schritt klarer und einleuchtender wird. Und was hat es mit seiner Schlaflosigkeit auf sich? Wer weiß, wenn er nachts rumgeht, statt zu schlafen, geht er vielleicht nicht bloß deshalb, weil er nicht schlafen kann, sondern weil er gar nicht schlafen will: Sein Gehen wäre dann keine Flucht vor der Schlaflosigkeit, sondern vor dem Schlaf, den er zunehmend fürchtet, diesen Zwillingsbruder, er will sein Bewusstsein an keiner Pforte abgeben und in niemands, den er nicht kennt, Stirnflügel oder Mohnstängelhände geraten, in keinem Füllhorn der Stille versinken; er will wach sein, schauen, nachdenken: rumgehen.
    Das Wasser aus dem Wolkenbruch ist überall verdunstet, als hätte es gar nicht geregnet, aber die Luft ist noch spürbar frei von Pollen, August atmet tief ein. Hunger spürt er kaum mehr. In den nächsten Tagen soll es heiß und trocken werden. Er will zu einem nahen Park gehen, dort wird es noch Feuchtigkeit geben. Eine Zeit lang trifft er keinen Menschen, nur ein großer Leiterwagen mit Tageszeitungen steht vor einer offenen Haustür, aus der Licht fällt. Dann belebt es sich, August kommt auf eine Kneipenstraße, Touristen und Nachtschwärmer füllen die Leere, sie erhellen die dunkle Stadt, Fußgänger in lachenden Gruppen, untergehakte Mädchen, ein Nachtbus steht an der Ampel, zwischen jungen Leuten sitzt eine ältere Frau, den Blick auf die Lehne vor sich gerichtet, traurig oder bloß müde: Während die anderen nach Hause oder auf die nächste Party fahren, ist sie vielleicht auf dem Weg zu einer Arbeit vor der Morgendämmerung, wird ein noch schlafendes Büro putzen oder eine eben leer gewordene Diskothek.
    Etwas abseits erreicht August den Park. Ein Bauzaun versperrt den Zugang zur Hauptallee, jetzt wird auch dieser Park erneuert. August bleibt draußen auf dem ungepflasterten Weg zwischen Park und Straße. Hier und da sind noch Pfützen, und unter Augusts Füßen liegt eine klebrige weiße Decke, festgeklatschte Pollen, wie eine matschige Schneedecke, Schnee im Vorsommer, und wie im Winter riecht August in den Schnee hinein, aber er riecht nicht nach Schnee, er hört hinein, aber er klingt nicht nach Schnee, kein Wunder, er taut ja schon und dämpft kein Geräusch mehr. Auf der Pollendecke bilden die Pfützen ihre Formen, zwischen Kuhlen sind Wasserketten entstanden, dann eine Miniatur von Binnenmeer, zum Gebüsch hin ein abschüssiger Landstrich, der schon wieder ganz trocken ist. Beim Hinabschauen bemerkt August an seiner Hosennaht einen heraushängenden Faden, er wickelt ihn um den Zeigefinger und reißt ihn ab. Als er ihn wegwerfen will, sieht er, dass der im Abfallkorb hängende Müllsack halbhoch mit Regenwasser gefüllt ist. Er legt den Faden auf die Wasseroberfläche und fragt sich, wie schnell er wohl untergehen wird. So ins Wasser vertieft, hört er hinter sich leise Schritte, gleichmäßiges Atmen, das reißt ihn raus, wie einer, der Abfälle durchstöbert,
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