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Verflucht himmlisch

Verflucht himmlisch

Titel: Verflucht himmlisch
Autoren: Bettina Belitz
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Der Tag davor
    »Seppo! Hey!« Er blieb nicht stehen. Verdammt. Ich kannte das schon. Jedes Mal war das so. Wir hatten den ganzen Nachmittag zusammen trainiert und er lief allein nach Hause, obwohl wir in der gleichen Straße wohnten. Nur zehn Minuten zuvor hatte er mir gezeigt, wie ich mich besser abrolle, wenn ich zwei Meter in die Tiefe springe. Und jetzt kannte er mich plötzlich nicht mehr.
    »Guiseppe Antonio Lombardi!«, brüllte ich über den Bürgersteig. So rief ihn seine Mutter, wenn er wieder mal nicht tat, was er tun sollte. Und das kam fast so oft vor wie bei mir und meiner Mutter. Er zuckte kurz zusammen, ging aber weiter. Okay, dann musste ich ihn eben einholen.
    Vielleicht fand er es ja uncool, mit einem Mädchen durch die Straßen zu laufen. Ich fand es uncool, dass er vor mir weglief oder tat, als hörte er mich nicht. Er musste mich hören. Ich konnte wirklich sehr gut laut schreien.
    Jetzt hatte er fast den Zebrastreifen an der letzten Kreuzung vor unserer Straße erreicht. Ich legte den Kopf schräg und schätzte die Entfernungen ab. Das war etwas, was ich nicht so gut konnte wie laut schreien. Aber diesen Bürgersteig kannte ich in- und auswendig. Zwei Schritte bis zum Mülleimer, fünf vom Mülleimer bis zur Parkmauer, dann Sprung auf das Geländer, balancieren, zurück auf den Asphalt, abrollen. Vor allem abrollen. Sonst würde es wieder wehtun. Wenn ich sofort losspurtete, würde ich ihn einholen, bevor er die Kreuzung überquerte. Es war ein einfacher Run. Fast zu einfach.
    Ich startete aus dem Stand. Meine Muskeln waren noch warm und weich. Der Mülleimer quietschte kurz unter meinen Sohlen, doch bevor er wackeln konnte, war ich schon auf der Mauer und setzte zum Geländer über. Balancieren war meine Spezialität. Das konnte ich besser als alle Jungs zusammen. Sogar besser als Seppo. Deshalb nannten sie mich manchmal »Katz«. Das gefiel mir. Ganz besonders, wenn Seppo mich Katz nannte.
    Ich hechtete ihm direkt vor seine Zehenspitzen und rollte mich seitlich ab. Ohne Verletzungen. Ging doch.
    »Mensch, Luzie.« Endlich blieb er stehen. Mit einem Satz federte ich auf meine Füße zurück.
    »Warum läufst du vor mir weg?«
    Er schnaubte und schaute zur Seite und dann auf den Boden, als gäbe es da etwas ungeheuer Interessantes zu sehen. »Ich lauf nicht vor dir weg …«
    »Doch, tust du«, entgegnete ich. »Jeden Abend.«
    »Ich laufe nicht weg, ich laufe nach Hause«, brummte er.
    »Ich auch!«, rief ich empört. Die Frau vor uns drehte sich mit verkniffenem Blick zu uns um. »Wir sind quasi Nachbarn, wir können zusammen nach Hause gehen.«
    »Nerv mich nicht, Luzie«, murmelte Guiseppe und beschleunigte seine Schritte. Gut, dann musste ich eben das Thema wechseln.
    »Wir haben neues Material da«, sagte ich mit gesenkter Stimme. Seppo blieb sofort stehen.
    »So«, erwiderte er und fummelte an den Bändern seines Kapuzenshirts herum.
    »Ganz frisch heute Mittag eingetroffen. Eine Oma. Herzstillstand. 85 Jahre.«
    »Eine Oma …«, stöhnte Guiseppe und setzte sich wieder in Bewegung. »Das ist doch langweilig. Das ist gar nichts.«
    Mein Papa war Bestatter. »Heribert Morgenroth. Wir helfen Ihnen immer.« So lautete sein Slogan. Ich fand, dass das fast klang, als könne er die Toten auferwecken. Und manchmal sah es auch so aus. Wenn er mit ihnen fertig war, lächelten sie. Alle lächelten. Ich hab sie mir oft angesehen. Papa meinte, der Tod müsse etwas sehr Schönes sein, denn nach einigen Stunden würde jeder seiner Kunden glücklich aussehen. Ja, er nannte die Toten Kunden.
    Serdan und Billy hatte ich schon einige Male heimlich in den Keller geschleust. Ein Toter, fünf Euro. Sie waren richtig scharf darauf, einen Toten zu sehen. Und ich bekam dafür ein schönes Extrataschengeld.
    Nur bei Guiseppe hatte es noch nicht geklappt. Das wurmte mich. Denn Guiseppe war für mich etwas anderes als Billy und Serdan. Guiseppe war der beste Traceur von ganz Ludwigshafen – na ja, zumindest vom Hemshof, dem Stadtteil, in dem wir aufgewachsen waren und immer noch lebten. Einmal ist er sogar von einem Dach zum anderen gesprungen. Und er konnte aus dem Stand einen Salto drehen. Außerdem hatte er mir alles beigebracht, was ich konnte. Er war mein Lehrer. Und ich wollte, dass er endlich mal zu mir nach Hause kam. Wir kannten uns seit dem Kindergarten und trotzdem hatte er mich noch nie besucht. Außer an meinen Geburtstagen. Aber das zählte nicht.
    »Auch eine tote Oma ist eine Leiche«, versuchte
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