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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan
Autoren: Pavel und Ich
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das ein Verwaltungsfehler sein.
    »Es ergibt
einfach keinen Sinn«, hätte ich ihr erklärt, »Haldemann zu töten. Neun Tage
haben wir geredet, und er ist mit keinem Wort auf die Politik zu sprechen
gekommen, oder die Treue zu seiner Heimat. Die nationale Sicherheit. Über seine
Frau hat er geredet, und den Jungen. Einmal hat er mir gesagt, er habe Sie
geküsst. >Auf den Mund<, sagte er mit gesenktem Blick. Er war so
zimperlich, was das anging, dass man Angst haben musste, er würde sich in die
Hose machen.«
    Aber was
wäre der Nutzen gewesen? Sie hätte mich ausgehorcht und anschließend sitzen
lassen, mit einem Achselzucken und ohne auch nur anzudeuten, was sie wirklich
dachte. Ich hatte mein halbes Leben mit meiner Erinnerung an sie verbracht, und
jetzt, nach unserem Wiedersehen, kapierte ich endlich, was sie war:
unergründlich. Es gab nichts, das ich tun konnte, um sie dazu zu bringen, mir
beim Zusammenstellen der Tatsachen zur Hand zu gehen.
    Als
Nächstes versuchte ich es bei dem Jungen. Anders Skinner. Halb rechnete ich
damit, dass er seinen Nachnamen geändert hatte, im Zweifelsfall in »Richter«,
aber er trug den Namen seinen Adoptivvaters und arbeitete als zweitklassiger
Journalist für eine Düsseldorfer Tageszeitung. Zunächst schrieb ich ihm einen
Brief, dem ich einige Seiten aus meinen Notizbüchern beilegte, die verschiedene
Ereignisse seiner Vergangenheit umrissen. Ich bekam keine Antwort. Ich hatte
nicht das Geld, um einfach so nach Deutschland zu fliegen, also besorgte ich
mir Anders' Telefonnummer und meldete ein R-Gespräch an. Zu meiner Erleichterung
übernahm er die Gebühren.
    »Wer ist
da?«, fragte er, und ich stellte mich vor. »Ah ja«, sagte er, »der Mann mit der
Augenklappe. Sie haben mir einen Brief geschrieben.«
    Ich gab
ihm eine knappe Zusammenfassung der Dinge, die mir im Zusammenhang mit dem
Geschehenen am Herzen lagen, und stellte ihm meine Frage so schnell ich konnte.
Ich wusste nicht, wie viel er für unser Gespräch würde ausgeben wollen, und in
seinen ersten Worten war ein Anflug von Feindseligkeit zu hören gewesen.
    »Warum,
denken Sie, hat er es getan?«, fragte ich.
    »Was
getan?«
    »Haldemann
umgebracht. Mit erfahrener Hand. Wie einer Weihnachtsgans hat er ihm das Genick
gebrochen.«
    »Das
wissen Sie doch gar nicht«, sagte er. »Sie haben im Wagen gesessen und darauf
gewartet, dass er wieder herauskam. Der alte Mann kann genauso gut auf der
Treppe ausgerutscht sein und sich dabei den Hals gebrochen haben.«
    Er sagte
noch einiges mehr, alles in dieser Richtung, und riet mir, ich solle die
Romantik aus meinen Erinnerungen herausfiltern und mich an die Fakten halten.
»Ich meine Geschehnisse, Handlungen«, sagte er, »keine flüchtigen
Beobachtungen. Sie legen zu viel Gewicht auf Achselzucken und zusammengezogene
Brauen, bauen ganze Schlösser auf ein einzelnes Lächeln. Schreiben Sie auf,
was er getan hat, und belassen Sie es dabei. Wie Hemingway. Das wird dem Stoff
am gerechtesten.«
    Seine
Kritik verletzte mich, und ich wurde schnell anklagend.
    »Sie haben
ihn niemals geliebt«, sagte ich.
    »Mr
Peterson, ich war damals zwölf Jahre alt. Jetzt bin ich dreißig. Das Einzige,
woran ich mich mit aller Klarheit erinnere, ist, dass er mir Dickens vorgelesen
hat.«
    »Sie
lügen.«
    Er legte
auf. Vielleicht war es ihm zu dumm, auch noch für meine Beleidigungen zahlen zu
müssen. Eine Woche später versuchte ich es noch einmal, aber er war nicht da.
Danach verlor ich den Mut und zerriss seine Telefonnummer.
    Denken Sie
nicht, dass ich Anders' Warnung nicht ernst nahm. Natürlich quälte mich die
Möglichkeit, dass ich Dinge falsch gesehen hatte oder mich falsch an sie
erinnerte. Es ist eine schreckliche Sache, die Vergangenheit zu verzerren.
Dennoch, ich kam zu dem Schluss, dass ich mich einfach nicht anders erinnern
konnte, bis zum letzten kleinen Stirnrunzeln, und so nahm ich denn endlich
meinen Auftrag an und griff zum Stift. Setzte mich hin und schrieb seine
Geschichte, die meines Pavel, mühte mich ab mit jedem Komma und Wort. Ich
dachte, das würde uns beiden auf poetische Weise unseren Frieden geben, was
sich jedoch als Illusion erwies. Nach wie vor verfolgt er mich bis in meine
Nächte, besonders im Winter. Oh, wie oft, seit ich mit dem Schreiben fertig
bin, war ich im Traum an seiner Stelle, habe in ihrer aller Haut gesteckt, mich
mit ihren eigenen Worten in sie hineingeträumt, glauben Sie mir: in Pavels
scheue Bekenntnisse durch die Stäbe seiner Zelle, in
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