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Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Titel: Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
Autoren: Emma Temple
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KORORAREKA, 1831

    1.
    Das Meer schäumte kurz auf, als der Anker in die Wellen sank. Die Kette rasselte noch einmal, dann herrschte Stille. Die Mannschaft der Electra rollte in Windeseile die letzten Taue auf, kümmerte sich darum, dass die Segel ordentlich gerefft waren und keines von einer plötzlichen Windbö erfasst werden konnte. Der magere Schiffsjunge sah sich neugierig um. Es war seine erste große Fahrt in den Südpazifik – und von diesem Ort redeten die alten Seeleute seit Monaten wie von einer Art Himmel. Oder der Hölle, je nach Geschichte, die sie zu erzählen hatten. Im Augenblick ankerten bestimmt zwanzig Walfangschiffe in der weit geschwungenen Bucht. Einige groß und gepflegt, mit mindestens vier kleinen Booten an Bord, dazu große Feuerstätten, in denen der Tran der mächtigen Tiere direkt eingekocht werden konnte. Einige kleinere Schiffe waren auf die Fabriken an Land angewiesen, um ihrem Fang das wertvolle Fett abzunehmen. Aber egal, ob groß oder klein: Ihre Besatzung war höchstwahrscheinlich nicht an Bord.
    Kororareka. Der Ort, den die Priester den »Höllenschlund des Pazifik« nannten. Der Schiffsjunge musterte die einfachen Holzhäuser, die hinter den Bäumen am schmalen Strand zu erkennen waren. Die große Bucht war perfekt vor allen Stürmen geschützt, eine leichte Brise strich über seinen Kopf und sorgte dafür, dass ihm der Schweiß nicht zu sehr über das Gesicht lief. Er wischte sich mit einer ungeduldigen Bewegung eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte. Hier konnte man sicher baden, endlich wieder etwas frisches Obst essen. Oder ein Stück Fleisch, das nicht schon vor Monaten in Salz gelegt worden war.
    Eine Hand legte sich ihm auf die Schulter. Er sah nach oben und erkannte den Mischling, der irgendwo vor Afrika angeheuert hatte, als einer der Matrosen an einem Fieber gestorben war. So wie er aussah, war seine Mutter aus China und der Vater ein Neger.
    »Willst heute etwa ein Mann werden, Kleiner?«, grinste er.
    Austin schüttelte den Kopf. Er brachte kein Wort heraus. Von den Frauen von Kororareka hatten die Männer immer mit einem merkwürdigen Gelächter gesprochen. So, als ob sie etwas Besonderes wären. Frauen, die man nicht lange fragen musste. Auch dann nicht, wenn man nur ein Matrose war – wichtig war nur das Geld, das man ihnen gab. Oder den Männern, die sie beschützten. Austin machte schon der Gedanke Angst.
    »Ich wollte nur ein bisschen von Bord …«, begann er.
    Der massige Mann schlug ihm auf den Rücken und schüttelte den Kopf. »Vergiss es. In Kororareka ist nichts gut – außer Schnaps, Frauen oder eine Tracht Prügel. Ich pass auf dich auf, Kleiner. Dann passiert dir nichts. Ich hab bei meinem ersten Landgang hier einen Zahn verloren. Und meine Rippen tun heute noch weh, wenn wir im Winter oder bei feuchtem Wetter segeln. Muss dir nicht passieren. Komm mit!«
    Ehe er sichs versah, schubste der Neger Austin in ein kleines Boot, mit dem sie an Land kommen wollten. Der Junge klammerte sich an der Bordwand fest und starrte dem Ort entgegen. Je näher sie kamen, desto deutlicher konnte er die zahllosen Menschen auf den Straßen unterscheiden. Fast alles Männer. Dazu die vielen Läden und der Geruch nach gebratenem Hühnchen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Frisches Fleisch nach den vielen Monaten mit gepökeltem Speck, in dem schon die Maden wimmelten – das klang wie das Paradies. Oder zumindest wie ein Stück davon.
    Mit einem knirschenden Geräusch lief das Boot am Strand auf Grund. Der Mann vorne im Bug sprang heraus, nahm eine Leine und zog das Boot noch ein wenig höher auf den Sand, während die anderen Männer der Reihe nach von Bord sprangen. Keiner von ihnen hielt sich lange auf, alle verschwanden in der nächsten staubigen Straße, manche zu zweit, manche in größeren Gruppen und manche allein. Der Junge zögerte noch, als ihn die Hand des Negers auf seiner Schulter auch schon in Richtung der Stadt drehte. Er wehrte sich nicht, und wenig später waren sie zwischen zwei Häusern verschwunden.
    Mit großen Augen sah er sich um. Die Holzhäuser sahen zum Teil nur grob zusammengezimmert aus, er entdeckte bei einigen von ihnen sogar Spalten in der Wand, breit wie eine Männerhand, durch die man ins Innere blicken konnte. Andere waren sorgfältig gearbeitet, da hatten Zimmerleute weiter als an den nächsten Regenschauer gedacht. Die Dächer waren mit Holzschindeln und Gräsern gedeckt, die sich im leichten Wind bewegten. Was
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