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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan
Autoren: Pavel und Ich
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Winter
gab nicht nach, bis zum 14. März, als die Temperatur plötzlich innerhalb von
Stunden um fünfundzwanzig Grad anstieg. Die Luft erwärmte sich weit schneller
als der gefrorene Boden, Wasser sammelte sich in den Straßen und bildete ein
Glatteis, das etliche Leben forderte. Von allen Todesfällen dieses Winters
waren das womöglich die tragischsten. Gestrauchelt an der Schwelle zum
Frühling. Berlins Straßen waren an diesem Tag voller Menschen, und tags darauf
wurden es noch mehr: Sie hielten die Gesichter in die Sonne und atmeten die
Luft, die ihnen nicht länger in die Lungen biss. Plötzlich roch es überall nach
Gras und Hundedreck, und bis Ende der Woche stand Berlin in voller Blüte. Ich
bin kein sentimentaler Mensch, kaufte mir aber dennoch den ersten Blumenstrauß,
den ich sah. Er verlieh meinem kleinen Zimmer ein wenig Schönheit.
    Die
Untersuchung von Foskos Tod hatte mich mehrere Wochen aus dem Verkehr gezogen.
Als Zivilist, dessen Dienste für den Colonel streng inoffiziell gewesen waren,
galt ich als Verdächtiger. Ich gab mich als Butler und Haushälter aus, und zu
meiner Erleichterung bestätigten das die übrigen Männer, die für Fosko
gearbeitet hatten, angefangen mit dem Chauffeur und dem kräftigen Easterman.
Am Ende wurde der Tod des Colonels zu einem Unfall erklärt. Es hieß, das
Hauptquartier sei froh, ihn los zu sein. Jedenfalls stellten sie alle weiteren
Untersuchungen schnellstens ein. Und so saß ich schließlich ohne Einkommen in
Berlin, schlug mich mit meinen dürftigen Ersparnissen durch und verfolgte den
weiteren Lauf der Dinge mit dem Blick eines mittellosen, in die Jahre kommenden
Mannes. Die Augen der ganzen Welt ruhten in diesem Frühling 1947 auf Berlin.
    Zu Beginn
des neuen Jahres verschlechterte sich die ohnehin schon schlechte Beziehung
zwischen den West-Alliierten und den Sowjets weiter, und es begann nach einem
neuen Konflikt zu riechen. Im März verkündeten die Amerikaner ihre
»Truman-Doktrin«, in der sie die Eindämmung des Kommunismus überall auf der
Welt gelobten. Die Sowjets reagierten mit Sabotageakten gegen die Berliner
Strom- und Wasserversorgung und ließen die Gewalt in den Straßen eskalieren.
Die Anzahl der Morde geriet außer Kontrolle, und man sprach von deutschen
Kriegsgefangenen, die in russischen Uranbergwerken krepierten. Wissenschaftler
und Ingenieure verschwanden auch weiterhin in alarmierender Zahl. Jeden Tag
gab es neue Gerüchte, die auf ihrem Weg von Mund zu Mund immer verrückter
wurden und die wachsende wirtschaftliche Panik nährten. Die Berliner redeten
von Geld und Lebensmittelkarten, von Sozialismus und Wohnungsnot, von der
ruhmreichen Hitlerzeit.
    Trotz der
großen historischen Bewegungen lag mein Hauptinteresse natürlich weiter bei
den Lebenswegen derer, die meinen eigenen gerade erst gekreuzt hatten. Über
Pavel konnte ich rein gar nichts in Erfahrung bringen, nicht einmal, ob er tot
war oder noch lebte. Ich versuchte, seiner Familie in Cincinnati zu schreiben,
konnte dort aber keine Richters ausfindig machen, die einen Sohn oder Ehemann
vermissten. Ehemalige Kameraden von ihm wussten mir die eine oder andere
Geschichte über seine Vergangenheit zu erzählen, aber nicht einmal ein russischer
Trinkkumpan (immerhin ein Major) vermochte mir zu sagen, was mit ihm geschehen
war, nachdem Karpow ihn mitgenommen hatte.
    Sonja ließ
sich leichter verfolgen. Ganz gegen meine Erwartung kehrte sie Berlin nicht
gleich den Rücken, sondern zog in eine Zweizimmermaisonettewohnung in
Wilmersdorf und ließ auch den Bösendorfer-Flügel aus der alten Wohnung dorthin
transportieren. Ich machte die Bekanntschaft der Dame, die gegenüber von ihr
wohnte, einer ansehnlichen vierzigjährigen Kriegerwitwe namens Walkowitz, die
ich einmal die Woche zu Kaffee und Kuchen traf, um sie über ihre Nachbarin
auszuhorchen. Sie muss gedacht haben, dass ich ihr den Hof machen wollte, und
nach unserem letzten Treffen im September, bei dem ich ihr erklärte, dass ich
Deutschland nun verlassen würde, ließ ich sie mit Tränen in den Augen zurück.
Sie erzählte mir, Fräulein Sonja Drechsler und ihr heranwachsender Sohn
führten ein bescheidenes Leben. Sie gebe ihm Klavier- und auch Leseunterricht,
denn aus irgendeinem Grund gehe er nicht zur Schule. Anfang April vertraute
sie mir an, sie denke, das junge Fräulein sei womöglich wieder schwanger. Zwei
Wochen später war sie sich dessen sicher. Wie gerne hätte ich gewusst, wer der
Vater war, und auch, warum sie
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