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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan
Autoren: Pavel und Ich
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Drang, ihn anzuschreien, obwohl er diesen Jungen wirklich
liebte. Dann klingelte das Telefon, klingelte schrill durch den halb erleuchteten
Raum, und bevor er sich noch wundern konnte, dass es wieder funktionierte,
hatte er den Hörer schon wie mechanisch aufgenommen, nannte seine Nummer und
stützte eine Hand gegen das eisige Fenster, taute ein Loch in Anders'
gefrorenen Namen.
     
    Es war der Winter '46. Berlin war
in zwanzig Teile geschnitten, wie ein Truthahn zu Thanksgiving. Acht davon
gehörten den Russen, und es hieß, es gäbe dort keine einzige Frau, die nicht
vergewaltigt worden wäre. Es war ein Winter des Todes, die Menschen froren in
ihren ungeheizten Wohnungen, waren mittellos, hungrig und lebten von den
zusammengekratzten Krümeln vom Tisch ihrer Besatzer. Dennoch regten sich in all
dem Elend erste Vorboten des Aufschwungs: ein Nachtklub in Schöneberg, ein
Arbeiterbordell im Wedding, ein paar Kneipen um den Zoologischen Garten und der
Gestank des Affenkäfigs in der Dezemberluft. Kleine Betriebe, deutsches
Personal, amerikanische Kunden. In eben einer dieser Kneipen stand Boyd White
und sah mit einem Auge hinaus auf die Straße, wo der Schnee sein Auto unter
sich zu begraben versuchte. Das Telefon war hinter seinem Körper verborgen,
Whites Kragen reichte ihm bis hoch über Hals und Kinn, und er zählte leise die
Klingelzeichen mit. Nach dem dritten nahm Pavel ab.
    »Lassen
dich deine Nieren nicht schlafen?«, fragte Boyd und lauschte der Lüge, die er
zur Antwort bekam.
    »Ich bin
froh, dass du dich besser fühlst. Hör zu, Pavel, ich brauche deine Hilfe. Bist
du allein?«
    »Der
Junge? Schick ihn weg.«
    »Wie
meinst du das, du kannst nicht?«
    »Ich bin
in zehn Minuten da. Sorg dafür, dass die Tür unten offen ist. Ich werde die
Hände voll haben.«
    »Sagen
wir, ich bringe etwas Wäsche.«
    »Wäsche,
Pavel. Der Mensch muss doch mal seine Kleidung waschen.«
    »In zehn
Minuten, Pavel. Warte einfach in der Wohnung. Und schick den Jungen weg.«
    Er legte
auf und fragte den Mann hinter der Theke, was sie an Alkohol hätten.
    »Kartoffelwodka.
Schokoladenlikör. Französischen Cognac, aber der ist verdünnt und kostet ein
Vermögen.«
    »Sagen Sie
das allen Kunden?«
    »Warum
nicht? Mein Chef ist ein Arschloch.«
    Boyd
zuckte mit den Schultern und kaufte eine halbe Flasche Wodka. Er bezahlte mit
Marken und dem Rest eines Päckchens Zigaretten. Sie teilten sich eine, der Mann
hinter der Theke und er, und sahen durch die schmutzigen Fenster hinaus in den
Schnee.
    »Ist das
Ihr Wagen?«, fragte der Barmann neidisch.
    »Klar«,
sagte Boyd. »Wenn jemand fragt, ich war nie hier.« Er legte noch sechs
Zigaretten auf die Theke. »Hast du mich verstanden?«
    »Wen soll ich verstanden haben?«
    »Guter
Junge.«
    Boyd warf
den Stummel seiner Zigarette auf den Boden und trat hinaus in die Kälte. Er
ging zum Auto hinüber und öffnete den Kofferraum, in dem sich ein Schrankkoffer
befand, einer von denen, wie man sie für Reisen nach Übersee benutzt, mit
messingbeschlagenen Ecken und zwei Gurten, die ihn zuhielten. Boyd fuhr mit der
Hand über die Unterseite des Koffers, um zu fühlen, ob er nass war. Dann setzte
er sich hinter das Steuer, drehte den Zündschlüssel und machte sich auf den Weg
zu Pavel. Zehn Minuten lang ging es über eisglatte Straßen, und die ganze Zeit
über bewegte er die Lippen und übte, was er sagen wollte. Legte sich die Sätze
zurecht und probierte sie durch.
     
    »Ich schwöre bei Gott, dass ich
ihn nicht gesehen habe. Ich meine, Himmel noch mal, wer fährt schon herum und
hält nach einem verdammten Zwerg, einem midget, Ausschau?
Ich weiß nur, dass ich durch den russischen Sektor fuhr, begleitet von einer
Flasche Korn, und da habe ich ihn erwischt, habe etwas erwischt und gespürt, wie es unter dem Auto mitgeschleift
wurde. Ich steige aus, und es schneit wie verrückt, mein Atem steht wie 'ne
Wolke in der Luft, und keine Menschenseele ist auf der Straße. Ich bin in
irgendeiner gottverlassenen Gasse, eine Handvoll Toilettenfenster stechen aus
den Ruinen hervor, die Scheiben blind vom Frost, und nirgends ein Licht. Erst
denke ich, es sind meine Rücklichter, die da den Schnee einfärben, aber als ich
meine Taschenlampe aus dem Handschuhfach hole, sehe ich, was es ist, ein roter
Streifen, der zehn Meter hinter mir beginnt und bis an meine Stoßstange reicht.
Ich lange also unter den Wagen, und mir ist ganz komisch, weißt du, weil ich
denke, ich muss einen Hund oder so erwischt
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