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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan
Autoren: Pavel und Ich
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sich dabei nur gedacht?
     
    Als sich die Tür öffnete und Boyd
hereinkam, war Pavel wieder einmal auf den Knien und mühte sich vor seinem
Nachttopf ab. Er brauchte eine Weile, um sich zu sammeln und sich gegen die
Last seiner Nieren auf die Beine zu kämpfen. Dann stand er da und studierte den
schweren Koffer in Boyds Armen und die Sorgenfalte, die sich durch sein
Gesicht zog. Er sah den nassen Fleck, der sich an einer der messingbeschlagenen
Ecken des Koffers gebildet hatte und aus dem es herauszutropfen drohte.
    »Was ist
da drin?«, fragte er, während er steiffingrig mit den Hosenknöpfen rang.
    »Sieh
selbst«, grunzte Boyd, setzte den Koffer ab und ging hinüber zum Bett, um sich
zu setzen. Er steckte sich eine Zigarette an, mit seinem silbernen Zippo, und
nahm einen tiefen Zug. »Ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«
    Gut sah es
ganz sicher nicht aus. Der Tote war gerade mal eins fünfundzwanzig, vielleicht
eins dreißig, und Boyd hatte ihn knicken müssen, damit er in den Koffer
passte. Nicht, dass der Zwerg nicht schon vorher einiges abbekommen hätte.
Soweit Pavel es sehen konnte, waren beide Beine und einer der Arme, an
Ellbogen und Handgelenk, gebrochen, und ein Teil des Kopfes fehlte. Überall
trat Blut aus dem Körper, hatte den teuren dunkelbraunen Anzug durchtränkt und
gab der Leiche eine quallenartige Glitschigkeit, die Pavels Gedärm in Aufruhr
versetzte. Schnell, voller Scham, drehte er das Gesicht des Toten zu sich hin,
aber natürlich kam es ihm nicht bekannt vor. Er kannte keine Zwerge. Er sah
einen bleistiftdünnen Oberlippenbart, und die Zähne waren eingedrückt.
Dahinter hing die Zunge wie ein Lappen.
    Pavel ging
in die Hocke, schloss behutsam den Koffer und humpelte hinüber zum Spülbecken,
um sich die Hände zu säubern. Er musste ein Stück Eis aus einem Eimer brechen
und sich mit der rauen Kante über Nägel und Knöchel fahren. Es sah aus, als
schnitte er die Blutflecken weg und hobelte seine Haut wie ein Schreiner.
    Als Pavel
mit dem Pickel auf das Eis einschlug, ließ Boyd ein Husten hören und fing mit
seiner Geschichte an. »Ich schwöre bei Gott, dass ich ihn nicht gesehen habe«,
sagte er. Pavel hörte nur halb hin, seine Seele kehrte sich nach innen, stellte
sich auf seine Atmung ein, auf den nervösen Stechschritt seines Herzens, der
die Erinnerung an die zahllosen Leichen des Krieges zurückbrachte. Einen Moment
lang hasste er den Zwerg dafür. Und als er so dastand, die Finger weiß über dem
Becken, während Boyd von seinen Kätzchen erzählte, fragte sich Pavel die ganze
Zeit, ob der Junge ihn durch die Schlafzimmertür hören und, was noch schlimmer
wäre, ob er ihn verstehen konnte.
     
    Man weiß nie bei den Leuten.
Nehmen wir zum Beispiel Pavel. Von Rechts wegen hätte der Zwerg ihm den Rest
geben müssen, ihn erlösen wie einen kranken Hund. Sehen Sie sich diesen Pavel
doch nur an: ein schmaler, schmächtiger Kerl, die Augen wie nasse Kohlen.
Geschwungene Frauenlippen und eine Haut so zart, dass man die Adern darin
erkennen kann. Die Ohren fast durchsichtig, das schwarze Haar in der Mitte
gescheitelt, die Zähne locker, weil er kein Obst bekommt. In jeder Hinsicht ein
schwacher Mann. Pavel hatte kaputte Nieren, und das war längst nicht alles. Er
litt unter einer tödlichen Krankheit, die man Verständnis nennt, stets bemüht,
sich selbst noch in den Stiefel hineinzufühlen, der ihn trat. Er war ein
ruhiger Mann, äußerst aufrichtig, der oft Stunden nichts sagte, wenn er
mitunter auch leidenschaftlich aufbrausen konnte, bis seine Zunge über die
Worte stolperte und nichts als Wirrwarr aus ihm herauskam. Dann kehrte er immer
zum Anfang zurück und setzte noch einmal neu an, denn er wollte vor allem
eines sein: aufrichtig. Ein
schwacher Mann, verstehen Sie, ganz im Geiste des vorhergehenden Jahrhunderts
erzogen, für eine Welt der Visitenkarten und Brautwerbung, der Schachpartien
und großen Romane. Für eine stille Liebe zum Leben. Von Rechts wegen hätte er
zum Opferlamm werden müssen, gleich da auf der Stelle. Tatsächlich aber
verwandelte er sich in dem Augenblick, da er den Geruch des Zwerges aufnahm, in
einen Bluthund.
    Sie
glauben mir nicht? Ich habe Stunden und Tage mit ihm verbracht, wir zwei allein
in der Dunkelheit, zwischen uns nur ein Gitter und das Rascheln der Schaben.
Ich kenne ihn in- und auswendig, und doch hat er mich immer wieder überrascht,
und es gab Momente, in denen ich dachte, ich müsse mein Bild von ihm
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