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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan
Autoren: Pavel und Ich
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zerschlagenen
Zähnen und kämmte mit einem billigen Kamm, den er unter seiner Achsel anwärmte,
das Haar zurück. Als er fertig hergerichtet war, stand der Zwerg friedlich im
gegen die Wand gelehnten Koffer, obwohl es Pavel einfach nicht gelang, ihm die
Augen zu schließen. Er überlegte eine Weile, hob die Leiche dann aus dem Koffer
und mühte sich damit ab, ihm den Mantel auszuziehen, den er anschließend
Zentimeter für Zentimeter untersuchte. Endlich legte er ihn mit einem Nicken
zur Seite: Der Mantel war zu dunkel, als dass man hätte sagen können, ob er
mit Blut oder etwas anderem verschmutzt war. Dem Toten das Hemd auszuziehen
hatte keinen Sinn: Es war zwar nicht zerrissen, aber in einem dunklen, erdigen
Rot eingefärbt, besonders hinten. Ihm die Hose wegzunehmen schien würdelos, im
Übrigen wäre sie dem Jungen zu kurz. Die Stiefel zog Pavel dem Zwerg allerdings
aus, was ihm einige Mühe bereitete, wollte er doch die Schuhriemen nicht
zerschneiden. Auch die Strümpfe nahm er, sie waren warm und neu. Als er fertig
war, stellte er den Zwerg zurück in den Koffer, aufrecht gegen die Rückwand
gelehnt. Die Füße standen gelb und hölzern auf dem Kofferfutter, die Nägel
eingerissen und schmutzig, die Zehen überwuchert mit drahtigem Haar. Ihr
Anblick machte Pavel betroffen, und so wickelte er sie in ein altes Handtuch,
aber irgendein Teil von ihnen schaute immer anklagend daraus hervor und
weigerte sich, vergessen zu werden. Endlich gab Pavel auf, zog sich einen Schemel
heran und setzte sich direkt vor die Leiche. Vielleicht eine halbe Stunde saß
er so da, sah zu, wie Eiskristalle um die glasigen Augen des Zwerges
wucherten, und dachte nach. Dachte: Winter.
    Dachte: Gott, wie ich
den Winter hasse.
    Er
versuchte, ein Gebet für den Zwerg zu sprechen, aber die Worte gefroren ihm im
Mund.
    Zuletzt
entfernte Pavel noch die roten Sterne vom Hemdkragen des Zwergs und steckte
sie in die Tasche. Dann schloss er den Deckel über dem Toten und kehrte in das
vordere Zimmer zurück, wo er den Jungen mit dem Kaschmirmantel zudeckte. Er
legte sich neben ihn und roch an seinen Händen, aber sosehr er sich auch
bemühte, das Blut war nicht zu riechen. Er zuckte die Achseln und sagte sich,
dass es zu kalt für Gerüche sei. Als er Richtung Schlaf und Traum trieb,
murmelte er einen Namen. »Mrs Belle White.«
    Der Name
kam ihm lächerlich vor, wie aus einem Märchen, und doch auch schön. Der
schlafende Junge neben ihm blies Fahnen in die Luft, während die ersten
Sonnenstrahlen die Eiswand abtasteten, die auf ihren Fenstern gewachsen war.
     
    Anders wachte vormittags auf und
fand den neuen Mantel, dazu die Strümpfe und Stiefel des Zwergs. Er zog alles
an und betrachtete sich im Spiegel. Er sah gut aus, als stammte er aus
besseren Verhältnissen, obwohl die Stiefel leicht drückten. Pavel schlief noch,
die Wollmütze über die Augen gezogen. Anders schlich sich nach nebenan und
öffnete den Koffer. Der mit-tschit wirkte
sauber, glasäugig, nur seine Füße waren hässlich. Anders durchsuchte die
Hosentaschen, fand aber nichts als ein halbes, mit gefrorenem Blut verkrustetes
Briefchen Streichhölzer. Wie aus Gewohnheit steckte er es ein und ging nach
Pavel sehen. Pavels Stirn war noch fieberheiß, und sein Körper schüttelte sich
vor Kälte. Der Junge traute Boyd nicht, dass er Wort hielt und mit Medizin zurückkam,
und so band er sich zwei von Pavels Schals um den Hals, stahl ein paar
ledergebundene Bücher vom Regal und ging los, um selbst etwas zu besorgen. Penizillin.
    In jenem
Winter war Penizillin eine Menge wert, war Gold wert, war einen Mord wert in
dieser Stadt der Kranken. Der Junge wusste über Penizillin Bescheid. So hatten
er und Pavel sich kennen gelernt, es hatte sie zusammengeführt, für den Jungen
war es Schicksal, eine Art Gott, für den man in den Krieg zog, der einen aber
auch umbringen konnte. Vor mehr als einem Monat hatte Pavel am Bahnhof Zoo
danach gefragt, als seine Nieren zum ersten Mal Schwierigkeiten machten. Er war
nicht in Uniform gewesen, hatte einen mehr oder weniger anständigen Mantel
getragen und sich wie ein Deutscher angehört. Wie Freiwild wirkte er. Schlo'
hatte ihn aufgegabelt, mit seinen elfeinhalb Jahren und den wasserklaren Augen,
auf die alle Tölpel hereinfielen. Schlo' sagte Pavel, er solle ihm zeigen,
womit er bezahlen wolle. Pavel griff in eine Tasche und packte ein Teeservice
aus, völlig unbeschädigt, dazu einen goldenen Ehering.
    »Reicht
das?«, fragte er, während er
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