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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan
Autoren: Pavel und Ich
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Handeln,
wissen Sie.«
    »Liest
du?«, fragte Pavel, und der Junge schüttelte den Kopf.
    »Lesen ist
was für Bleistiftspitzer und Bürokraten«, erklärte er. »Dafür habe ich keine
Zeit.«
    Er dachte
eine Weile nach und sah dann auf das Buch, das Pavel in der Hand hielt. »Lesen
Sie ruhig laut, wenn Sie wollen. Mich stört das nicht.«
    Pavel
lächelte und stand auf, um die Tür zuzumachen. Er schloss sie bewusst ab, das
Geräusch des Schlosses hallte durch den Raum und erinnerte Anders daran, wie
dumm es gewesen war, herzukommen. Dann nahm Pavel seine Regale mit der gleichen
ruhigen Gelassenheit unter die Lupe, mit der er sich vor Paulchens Luger die
Zigarette angezündet hatte. Seine Hand schwebte über verschiedenen Bänden, bis
er schließlich ein zerlesenes Exemplar herauszog, dessen hinterer Deckel übel
mitgenommen wirkte. Er setzte sich damit hin und begann laut zu lesen.
    »In einer Stadt, die ich aus mancherlei
Gründen weder nennen will, noch mit einem erdichteten Namen bezeichnen möchte,
befand sich unter anderen öffentlichen Gebäuden auch eines, dessen sich die
meisten Städte rühmen können, nämlich ein Armenhaus. In diesem wurde an einem
Tag, dessen Datum dem Leser kaum von Interesse sein kann, der Kandidat der
Sterblichkeit geboren, dessen Namen die Kapitelüberschrift nennt.«
    Anders machte
dicke Backen und ließ lautstark die Luft aus ihnen entweichen. »Was für ein
Geschwafel«, beschwerte er sich. »Kandidat der
Sterblichkeit ... Was für ein Unsinn.«
    »Da steht
nur, dass der Junge in einem Armenhaus geboren wurde, das ist so etwas wie ein Waisenhaus.
Ich habe allerdings vergessen, dir seinen Namen zu sagen. Er heißt Oliver
Twist.«
    »Ach ja?
Also für mich klingt das, als wäre es vor zweihundert Jahren geschrieben
worden«, sagte der Junge mit saurem Gesicht und Herablassung in der Stimme. »Modern ist es jedenfalls nicht«, fügte er dann noch hinzu, um die
Sache abzuschließen.
    »Genau
genommen waren es nur hundert Jahre«, begann Pavel zu antworten, brach dann
aber ab, zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder dem Buch zu, in dem er
vorher gelesen hatte.
    »Und worum
geht's darin?«, fragte Anders. Er täuschte Langeweile vor und ertappte sich
selbst bei der Täuschung. »Um Worte«, sagte Pavel. »Worte?«
    »Um Worte.
Und um einen Waisenjungen, der zu einem alten Juden zieht.«
    »Ist der
Jude gut zu ihm?«
    »Nein. Er
tut alles, um auch noch den letzten Penny aus ihm herauszuquetschen.«
    »Wie hieß er noch gleich?«
    »Der Jude? Fagin.«
    »Nein, ich
meine den Jungen. Olliwer?«
    »Oliver.
Oliver Twist.«
    Der Junge
formte den Namen ein paarmal mit dem Mund, dehnte und verkürzte die Vokale, bis
er eine Version hatte, die ihm gefiel.
    »Sie
dürfen weiterlesen«, sagte er großzügig. »Olliwer Twiest. Obwohl ich
wahrscheinlich einschlafen werde.«
     
    Nach dem Ende des vierten Kapitels
ging er. Es war Nacht geworden, und in der Wohnung war es fürchterlich kalt.
»Bis später«, sagte er und fragte sich, ob er den anderen Jungen von den Büchern
erzählen sollte. Sie würden sie stehlen wollen.
    Am
nächsten Tag kam er mit zwei Dosen Sardinen und einem Pfund mehliger Kartoffeln.
     
    Danach kam der Junge immer wieder,
direkt nach dem Frühstück oder auf dem Weg von der Arbeit. Manchmal, aber
nicht immer, schlief er bei Pavel. Hauptsächlich kam er wegen des Buchs, oder
sie unterhielten sich. Sie redeten über viele Dinge, Pavel und er. Es dauerte
einige Zeit, bis Anders sich daran gewöhnt hatte. Es waren merkwürdige
Gespräche, Gespräche über Dinge, die einem sonst spätabends vor dem Einschlafen
in den Sinn kamen, oder manchmal auch auf dem Klo, wenn nicht gleich etwas kam
und die Gedanken zu wandern begannen. Anders hatte nicht gewusst, dass man
über so was auch redete. Pavel redete von kaum etwas anderem. Wenn Anders ihn
nach normalen Dingen fragte, sagen wir dem Krieg oder seiner Vergangenheit,
wollte er nicht antworten. »Bücher, Schönheit und die Angst vor der
Dunkelheit«, erklärte ihm Pavel, »darüber können wir reden. Vergiss den Krieg.
Es gab keinen Krieg. Das heißt, natürlich gab es einen, aber wir tun besser
daran, ihn zu vergessen.« Wie immer er es auch betrachtete, dem Jungen kam das
alles ein bisschen meschugge vor.
    Dann wurde
es mit den Nieren schlimmer. Anders versuchte, Pavel Medizin zu besorgen, doch
es gab keine. Er konnte nicht sagen, ob Pavel schon Blut pinkelte. Zu diesem
Zeitpunkt war das Wasser in den Leitungen noch nicht
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