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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan
Autoren: Pavel und Ich
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keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte. Aber
selbst wenn ich mir die Freiheit herausgenommen hätte, ihr einen Brief zu
schreiben, wäre es nicht leicht gewesen, dieser mir letztlich doch völlig
Fremden eine solch intime Frage zu stellen. Ein einziges Mal hatten wir uns
unterhalten, in Foskos Villa, zum dumpfen Lied eines Cellos. Im Mai gab es eine
weitere skandalöse Neuigkeit: Trotz ihrer Schwangerschaft hatte Sonja »die
Bekanntschaft« eines amerikanischen Soldaten gemacht, der sich offenbar ohne
großes Aufhebens bereit erklärte, sie zu heiraten. Sein Name war Skinner, und
er war Leutnant. Im Oktober wollten sie Berlin verlassen, zusammen mit dem
Neugeborenen und Anders. Der Junge, wurde mir zugetragen, sprach Skinner nie
anders als mit seinem Nachnamen an. Dem Leutnant schien das nichts auszumachen,
er behandelte ihn gut, nachdem er erfahren hatte, dass Anders' Vater Sozialist
gewesen war. »Er hat Sympathien in diese Richtung«, vertraute mir Witwe
Walkowitz an. Nur Sonja hätte es fertiggebracht, dem wohl einzigen eingetragenen
Roten in der ganzen amerikanischen Besatzungsarmee über den Weg zu laufen.
    Als ich
von Sonjas Auswanderungsplänen hörte, entschloss auch ich mich, die Stadt zu
verlassen, bevor die Umstände noch schlimmer würden. Tatsächlich kam ich ihrer
Abreise um anderthalb Wochen zuvor. Packte meine Taschen, sorgte so für eine
Abschiedsträne in den Augen der Witwe und kehrte ins gute alte England zurück,
wo die Wirtschaft ebenfalls am Boden lag und die Leute sich mühten, über die
Runden zu kommen und jede Hoffnung auf Besserung längst fallen gelassen hatten.
Nach ein paar Monaten fand ich Arbeit als Nachtwächter und fristete mein Leben
damit, gemeinsam mit einem Schäferhund namens Fritz eine Chemiefabrik zu
bewachen. Wir entwickelten eine enge Freundschaft, bis er Hodenkrebs bekam und
eingeschläfert werden musste.
    Ein
Detail, das mich wochenlang, noch bevor ich Berlin verließ, beschäftigte, war
die Tatsache, dass der Zwerg verschwunden war. Als sich der Frühling in die
Stadt schlich, hätte er oben auf dem Dachboden gefunden werden sollen, aber das
wurde er nicht. Jeden Tag suchte ich in der Zeitung nach einem Hinweis auf
seine Entdeckung, und eines Morgens im April ging ich dann selbst hinüber in
die Seelingstraße, um der Sache auf den Grund zu gehen. Ich befragte sämtliche
Bewohner, aber niemand hatte die leiseste Ahnung, wovon ich redete. Ich
durchsuchte den Speicher, fand jedoch nichts als eine Reihe Unterhosen, die
einer der Mieter zum Trocknen aufgehängt hatte. Von Söldmann keine Spur. Wer kann
sagen, wer ihn dort oben weggeholt hatte? Wenn ich raten sollte, würde ich
sagen, dass einer von Pavels früheren Nachbarn auf ihn gestoßen sein und ihn
still und leise hinunter in seine Vorratskammer im Keller geschafft haben muss.
Ihn da vielleicht neben ein Gurkenfass gepackt hat, wo sich beider Gerüche aufs
Schönste ergänzten. Zu welchem Zweck?, werden Sie wissen wollen. Also, da bin
ich überfragt. Zum Essen oder Eintauschen? Um den Leichen im Wandschrank noch
eine hinzuzufügen? Weil er wusste, dass der Zwerg einmal berühmt gewesen war
und jetzt tot? In der Hoffnung, ihn möglicherweise den Behörden verkaufen zu
können, für eine Schaufel Kohle etwa? Wie dem auch sei, Söldmann war
verschwunden, und es bleibt unbekannt, wo er zum letzten Mal auftaute.
    Als ich
Ende September 1947 Berlin verließ, drückte ich mir einen kleinen Koffer voller
Notizbücher an die Brust. Darin stand alles aufgeschrieben, was ich wusste und
woran ich mich erinnerte, sicher unbeholfen, mit vielen Wiederholungen und der
Abfolge meiner Erinnerung folgend statt dem tatsächlichen Verlauf der
Ereignisse. Der Schaffner im Zug hatte Schwierigkeiten, mich davon zu
überzeugen, den Koffer im Gepäcknetz abzulegen. Schließlich folgte ich seinem
Drängen, ließ meinen Schatz aber den ganzen Weg bis nach Calais nicht aus den
Augen. In der Nähe der belgischen Grenze, so erinnere ich mich, nickte ich
kurz ein, wobei mir der Kopf nach hinten fiel. Wild um mich schlagend,
schreckte ich schon bald wieder hoch, voller Angst, meine Erinnerungen verloren
zu haben. Aber da lagen sie, schwerbäuchig in ihrem Koffer, nur ich hatte mir
einen steifen Hals geholt, den ich ewig nicht wieder loswurde. Es dauerte
mehrere Tage, bevor ich mich davon befreien konnte.
     
    Mai 1964
     
    I ch konnte
es nicht dabei belassen. Wollte es, das gebe ich zu, aber meine Neugier behielt
am Ende die Oberhand. Ich musste
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