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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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stimmte, aber ich hatte nicht die Kraft, mich mit ihm zu streiten.

Sonntag, 15. Januar
    Mum und ich haben uns heute so vorsichtig umkreist wie Katzen. Es ist fast, als wäre ihr nicht klar, dass ich schon längst wieder in die Schule gehe. Sie fragt ständig, ob ich für Montag alles habe, was ich brauche. Ich habe ganz sicher nicht alles, was ich brauche, aber darüber kann ich mit ihr nicht reden.

    Gerade kam sie rein und setzte sich ans Fußende meines Bettes. Ihre Augen waren ohne jeden Glanz, ganz stumpf und traurig. Ich habe nichts gesagt, sie auch nicht, und genauso plötzlich, wie sie hereingekommen war, verschwand sie auch wieder.
    Ich stand auf und folgte ihr. Sie ging in ihr Büro und ließ die Tür hinter sich zufallen. Eine Weile lauschte ich ihrem Weinen. Ich wollte da nicht hinein, zu all den verlorenen Dingen in ihrer Sammlung. Meine Hände begannen zu zittern. Schließlich ging ich in mein Zimmer zurück und stellte den Fernseher laut genug, um die Gedanken in meinem Kopf zu übertönen, die sich immer und immer wieder im Kreis drehten, wie tanzende Marionetten.

    Ich wünschte, ich könnte einschlafen und mein Gehirn ausschalten. Mindestens zwei Stunden liege ich schon wach. Mum ist IMMER NOCH in ihrem Büro bei ihrer Sammlung, und ich will da nicht rein. Allein schon an der Tür vorbeizugehen, jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Warum ist diese Sammlung für sie so wichtig? Und was hat es zu bedeuten, dass sie Dinge sammelt, die andere Leute verloren haben? Es ist schon eigenartig, dass es in einem Zuhause Fragen geben kann, die nie gestellt werden, Dinge, die nie gesagt werden. Ich möchte Mum bitten, aufzuhören, ihre ganze Zeit in diesem Zimmer zu verbringen. Ich möchte, dass sie herauskommt und mit mir spricht, aber ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll.

Montag, 16. Januar
    Als ich nach der Schule nach Hause kam, war Mum im Wohnzimmer und kämpfte mit dem Weihnachtsbaum. Sie wollte ihn nach draußen bringen. Der Baum war komplett braun, und die Nadeln fielen auf den Boden, sobald Mum ihn berührte. Die kleinen toten Nadeln sahen aus, als könnten sie sofort Feuer fangen. Es war ganz leicht, sich vorzustellen, wie der Baum mit Mum zusammen in einer riesigen Wolke aus Rauch und Feuer aufging. Mum würde schreiend auf dem Boden zusammenbrechen und nach Luft ringen. Ich schloss für einen Moment die Augen, um dieses Bild loszuwerden. Die Hände in den Hosentaschen lehnte ich mich gegen den Türrahmen und überlegte, ob ich ihr mit dem Baum helfen sollte, aber dann fiel mir ein, wie furchtbar Weihnachten gewesen war. Mum hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen Truthahn zu braten oder überhaupt irgendetwas – sie kocht gar nicht mehr –, und keine von uns beiden hatte irgendwelche Geschenke gekauft. Mum sagte, sie könnte sich praktisch nichts Schlimmeres vorstellen – also keine Geschenke. Den blöden Baum hatten wir nur, weil die Haywoods ihn vorbeigebracht hatten.
    Am Weihnachtstag saßen Mum und ich im Wohnzimmer und versuchten, uns irgendetwas einfallen zu lassen, was wir sagen konnten, aber keine von uns hatte eine Idee. Ich schwöre, ich konnte Emily auf dem anderen Sofa sitzen sehen, wie sie Witze riss und Grimassen schnitt und Mum tatsächlich zum Lachen brachte. Ich kniff die Augen zusammen und befahl meinem Hirn, endlich damit aufzuhören.
    Denn so wäre es sowieso nicht gewesen. Schon vorher hatte Mum nicht sehr oft gelacht. Sie war ständig damit beschäftigt, sauberzumachen und aufzuräumen. Wenn sie sich überhaupt mal hinsetzte, waren ihre Lippen zusammengepresst, als versuche sie, sich selbst im Zaum zu halten.
    Einmal, es ist schon Jahre her, waren Freunde von Mum zum Essen gekommen, ein Ehepaar. Mum saß ohne Schuhe da, sie hatte sie einfach abgestreift und ihre Füße unter sich auf dem Sofa angezogen. Sie trank Rotwein, und ihr Mund war ganz lila. Ihre Hände flatterten beim Reden, als wären sie Vögel, und sie lachte. In dem Moment war sie wie Emily: ungezwungen, fröhlich und glücklich. Ich wette, als Mum jung war, war sie genau wie Emily. Ich denke, deshalb hat sie Emily auch immer lieber gemocht als mich – weil sie in ihrer Jugend selbst wie Emily war. Aber inzwischen ist sie nicht mehr so. Nicht, nachdem sie uns beide jahrelang allein großgezogen und Vollzeit gearbeitet hat. Jetzt arbeitet sie allerdings noch nicht wieder, obwohl ich ja schon seit Herbst wieder zur Schule gehe.
    Ich sah zu, wie sie an dem Weihnachtsbaum zerrte und konnte es
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