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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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dabei, sich in Abis Zimmer zurechtzumachen. Ich liebe ihr Zimmer; ich war schon tausendmal dort. Ich mag die hellorangefarbenen Wände und die rot und gelb geblümte Tagesdecke aus Mexiko auf dem Bett, genau wie das Regal aus Holzbrettern und Backsteinen neben dem Bett. Über dem Regal hängt eine riesige Batikdecke, auf der Sonne und Meer abgebildet sind. Abis Bruder hat sie aus Indonesien mitgebracht. Diese Art von Sachen mag Abi zur Zeit eigentlich gar nicht mehr – zu hippiemäßig, meint sie –, sie steht jetzt mehr auf eine moderne Einrichtung, aber ich finde, man fühlt sich in ihrem Zimmer wie beim Sonnenaufgang.
    Abi saß im Schneidersitz auf dem Bett, über den Spiegel ihrer Schwester gebeugt. Sie trug Abdeckstift unter den Augen auf und sagte: »Ich hasse meine blöde Schwester.« Dann sah sie mich an, ihr Mund war noch offen und die Worte hingen irgendwie zwischen uns in der Luft. Ganz schnell schob sie nach: »Ich meine, sie ist so nervig. Sie hat mich angeschrien, weil ich mir ihren Spiegel ausgeliehen habe. Gott sei Dank geht sie in ein paar Tagen zurück an die Uni.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also sah ich in ihren Schrank.
    Sie sagte: »Du kannst dir gern mein weißes T-Shirt ausleihen.«
    Ich war froh über den Themenwechsel. »Gern«, antwortete ich, denn in diesem Shirt sieht mein Busen größer aus.
    Dann warf sie mir noch eine Hose zu. »Die passt mir nicht mehr, und du bist im Moment definitiv dünner als ich.«
    Megan sagte gar nichts. Es war fast, als sei sie gar nicht im Zimmer.
    Abigail fragte leise: »Wie geht’s deiner Mum?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Nicht so gut. Die meiste Zeit verbringt sie mit ihrer Sammlung.«
    Dann wünschte ich, ich hätte es nicht gesagt, denn Megan wollte mit ihrer nasalen Stimme wissen: »Welcher Sammlung?«
    »Nichts weiter«, sagte ich.
    Doch Abigail erklärte ihr: »Sophies Mum sammelt Dinge, die andere Leute verloren haben.« Ich warf ihr einen Blick zu, dass sie still sein solle, doch es war zu spät. Sie brabbelte einfach weiter. »Verlorene Handschuhe zum Beispiel oder Fotos, die in Leihbüchern vergessen wurden, und Zettel, die Leute verlieren. Notizen und so. Sie hat jede Menge Münzen, ein ganzes Glas voll, oder? Und sogar ganz hübschen Schmuck.«
    Megan drehte ihren Lippenstift wieder in die Hülse zurück. »Verrückt«, sagte sie.
    Abi schien zu merken, dass es mir vielleicht peinlich sein könnte, denn sie wurde rot und sah mich schuldbewusst an. Obwohl sie weiß, dass ich nicht rauche, fragte sie: »Möchtest du eine Zigarette?«, als ob das all ihr Geplapper vor Megan ungeschehen machen könnte.
    »Nein, danke.« Ich machte auf dem Absatz kehrt, um ihr zu zeigen, dass ich immer noch sauer war, und ging ins Badezimmer. Ich atmete ein paarmal tief durch und zog dann das T-Shirt an. Durch dieses Weiß sahen meine Augen grüner aus. Ich tuschte mir die Wimpern noch einmal – nur oben, damit es unter den Augen nicht verschmiert, das habe ich mal irgendwo gelesen. Es klingelte und die ersten Leute kamen.
    Im Wohnzimmer waren die Sofas auf eine Seite geschoben, damit die DJs ihre Sachen auf dem Tisch vor der Verandatür aufbauen konnten. Zara tauchte in einem knallrosa Outfit auf, das auch nur an ihr gut aussehen konnte; mich würde diese Farbe lächerlich blass machen. Megans Bruder und ein paar andere Typen kümmerten sich um die Musik. Bald hing Zigarettenrauch in den Zimmerecken wie Spinnweben.
    Abi und Megan unterhielten sich immer noch, dabei tranken sie aus der gleichen Flasche Wodka, völlig in ihr Gespräch vertieft. Ich schlenderte herum. Auf den beiden großen Sofas im Wohnzimmer, zwischen die Kissen gequetscht, saßen jede Menge Leute, die ich nicht kannte. Aber bevor ich bei Abigail und Megan blieb, setzte ich mich lieber dort dazu. Ein paar Jungs rutschten zur Seite und machten für mich Platz. Der neben mir fragte mich nach meinem Namen und auf welche Schule ich ginge, aber ich hatte keine Lust zu reden, also antwortete ich einsilbig. Er gab schnell auf und unterhielt sich stattdessen mit seinem Freund. Und jetzt kommen wir zum guten Teil des Abends. Denn ich habe gestern jemanden kennengelernt. (Ich! Ich kann es immer noch nicht glauben!)
    Also, ich saß da, und er kam ins Zimmer. Er war mindestens eins achtzig groß. Er trug ein T-Shirt, auf dem stand: POP IT, und ich las den Aufdruck ein paarmal und überlegte, ob das nun cool oder obszön oder sonst was war.
    Er KAM ZU MIR und sagte: »Ich bin
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