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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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nicht mehr ertragen. Also ging ich nach oben, wo ich die Musik richtig laut stellte.
    Sogar über die Musik hinweg hörte ich sie rufen: »Sophie, kannst du denn nicht sehen, dass ich hier unten Hilfe brauche?« Ich weiß, es war gemein, aber ich drehte noch lauter und ignorierte sie.

Dienstag, 17. Januar
    Schule war lang und langweilig. Als ich nach Hause kam, tauchte Mum nicht einmal zum Essen auf. Das einzige Mal, als ich sie heute Abend sah, war ihr Gesicht total abgehärmt. Wie von der Zeit abgenagt.

Donnerstag, 19. Januar
    Wir hatten heute in der Schule diesen Tanzlehrer zu Besuch. Einer der unglaublichsten Typen auf diesem Planeten! Höchstens eins sechzig groß, jedenfalls nicht größer als ich. Er trug eine kirschrote Lycrahose und hatte eine Glatze, was überhaupt NICHT zu dem auffälligen Outfit passte! Er brachte uns eine ganz irre Choreographie bei. Sie begann damit, dass man zweimal nacheinander ein Rad schlagen musste, dann etwas aus dem Ballett: ein Tombé und ein Soutenu, danach musste man aus der knienden Position heraus einen Handstand machen und zum Schluss kamen Handzeichen, die – wie er sagte – aus der Zeichensprache stammten. Und das alles zu einer merkwürdigen elektronischen Musik mit Piepstönen und Pfeifen.
    Die Einzige, die alles problemlos nachmachen konnte, war die Neue, Rosa-Leigh. Wir anderen mussten uns schon sehr anstrengen, um uns überhaupt zu erinnern, was als Nächstes kam, doch Rosa-Leigh schaffte es praktisch perfekt. Er lobte sie auch sehr. Als wir nach der Mittagspause darauf warteten, uns anmelden zu können, wollte ich ihr gerne sagen, wie toll sie gewesen war, aber sie schrieb etwas, vielleicht ein Gedicht, also sagte ich nichts.
    Wie ist es wohl, ein Gedicht zu schreiben? Ich wüsste nicht einmal, wie ich anfangen sollte.

Dienstag, 24. Januar
    Emily ist an der gleichen Schule gewesen wie ich. Sie war eine richtige Vorzeigeschülerin, vor allem in Kunst. Ich wünschte, ich hätte nicht Kunst gewählt, denn die Lehrerin, Mrs Haynes, hasst mich. Sie sieht immer Emily vor sich, wenn sie mich anschaut, da bin ich mir sicher.
    Heute hatten wir Kunst. Mrs Haynes wollte, dass ich ihr meine Hausaufgabe zeigte. Wie blöde ist das denn? Sich zu Hause auf eine Zeichnung vorzubereiten? Es ist doch hundertmal besser, gleich zu malen und nicht vorher Zeit zu vergeuden, weil man das Ganze skizziert, oder? Ich versuchte, ihr zu erklären, dass ich nicht verstand, wofür eine Skizze gut sein sollte, da schrie sie mich an: »Sophie, wir können es dir nicht dauernd nachsehen, wenn du bei allen dir gestellten Aufgaben versagst!«
    Ich glaube, sie merkte, dass sie zu weit gegangen war, denn ihre Wangen wurden knallrot. Ich habe immer gedacht, dass sie mit ihren scharfen Wangenknochen und dem abstehenden Haar wie eine Hexe aussieht, doch in diesem Moment glich sie eher einem kleinen Kind, total verlegen und schuldbewusst. Aber als sie dann loskeifte, war sie gleich wieder die Hexe: »Wenn du nicht weißt, was eine Skizze ist, dann sehe ich nicht, wie du jemals deine Prüfung bestehen willst.« Sie ging weiter, das Rückgrat kerzengerade durchgedrückt.
    Abigail und Megan saßen mit mir am gleichen Tisch. Abigail muss gemerkt haben, dass ich nahe daran war, loszuheulen, denn als ich ihren Blick auffing, lächelte sie mich hilflos an.
    Wut durchfuhr meinen Körper und die Hitze stieg wie plötzlich auflodernde Flammen in meine Wangen. Ich stopfte meine Sachen in meine Tasche, dabei flogen die Stifte auf den Boden. Ich ließ sie liegen, sprang auf und stürmte davon.
    Mrs Haynes schrie: »Wohin willst du denn?«
    Ohne Antwort ließ ich die Tür hinter mir zufallen, meine Wangen glühten als hätte ich einen Sonnenbrand.
    Wenn man in der Schule unterwegs ist, während alle anderen Unterricht haben, ist es, als ginge man über einen Friedhof. So still. Meine Schritte hallten, als ich die weißen Stufen hinunterlief. Ich fragte mich, wie es wohl wäre, auf einer weißen Treppe in den Himmel hinaufzusteigen – vorausgesetzt, es gibt einen Himmel. Aber ich ging ja nach unten. Mit jedem Schritt immer weiter weg vom Himmel. Heiße Tränen liefen über meine Wangen. Ich drückte die Schwingtür auf. Draußen hatte es angefangen zu tröpfeln.
    Der leichte Regen durchnässte meine Bluse – ich hatte vergessen, meine anderen Sachen mitzunehmen. Ich hoffte, Abi würde daran denken, mir meinen Pulli und meinen Blazer mitzubringen, ich hatte beides auf der Rückenlehne meines Stuhles
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