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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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Wir hatten eine Thermoskanne mit heißer Schokolade mitgebracht, zwei Schlafsäcke und einen kleinen Ghettoblaster. Wir legten eine alte Suzanne-Vega-CD auf, eine von Mums, die Emily gerne hörte. Bei einem der Songs geht es darum, wie jemand in einem Café sitzt, sich Milch eingießt und aus dem Fenster sieht. Emily stellte auf Repeat .
    Dann redete sie über Innenarchitektur und Kunst. Ende des Sommers würde sie nämlich aufs College für Kunst und Design in Leeds gehen. Wir redeten auch über Mum. Ich streckte die Hand aus, um den nächsten Song auf der CD spielen zu lassen. Darin ging es um Christopher Columbus. Ich sagte: »Er war Spanier, weißt du das?«
    »Wer?«
    »Columbus.«
    »Nein, war er nicht«, sagte Emily. »Er war Italiener.« Sie sah mich herausfordernd an. Mit ihren drei Jahren und zwei Monaten Altersvorsprung tat sie natürlich immer so, als hätte sie die Weisheit mit Löffeln gefressen.
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Nach einem langen Moment erzählte sie auf ihre unbekümmerte Art: »Weißt du, dass der erste Mensch, der sich in einem Holzfass über die Niagarafälle wagte, eine Frau war? Ihr Name war Annie. Das Allererste, was sie danach sagte, war: ›Das sollte mir lieber niemand nachmachen.‹«
    Ich kicherte, hielt mir aber die Hand vor den Mund und versuchte, leiser zu sein. »Warum sollte überhaupt irgendjemand das tun wollen?«
    »Stell dir mal vor, wie du den Deckel zumachst, einen reißenden Fluss entlangtreibst und dann in die Luft rausgeschleudert wirst. Das ist entweder lustig oder man kriegt die totale Panik.«
    »Oder es ist verrückt.«
    Emily erzählte weiter: »Ich habe gelesen, dass sie eine Katze mitgenommen hat, was das Allerverrückteste ist.«
    Ich kicherte wieder, und diesmal konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Wir bekamen beide einen Lachanfall. Ich erinnere mich, wie ich im silbernen Licht in ihre braunen Augen sah, ihr langes blondes Haar war mit zwei Bleistiften zurückgesteckt; ich sah in ihr herzförmiges Gesicht und wünschte, wir würden häufiger Zeit miteinander verbringen.
    Wir hörten uns die CD zu Ende und wieder von vorne an. Dann spielten wir Karten. Fluffy rieb ihren pelzigen Kopf gegen Ems Hand. Eine Weile saßen wir schweigend da. Ich erzählte Emily von einem Jungen, den ich mochte.
    »Steve aus unserer Straße? Der Steve?«, fragte sie.
    »Er ist süß.«
    »Er kommt mir ziemlich jung vor. Wie alt ist er denn?«
    »Sechzehn. Ein Jahr älter als ich!«, sagte ich.
    »Er sieht nicht so aus.«
    »Jedenfalls mag ich ihn.«
    »Dann frag ihn doch, ob er sich mal mit dir treffen will.«
    Ich antwortete, dass ich das vielleicht auch tun würde, dabei wusste ich genau, dass ich dafür viel zu viel Angst hatte. Aber ich stellte mir vor, einfach wie Emily zu sein, die einen Jungen ohne Probleme so etwas fragen konnte.
    Weit weg begann der Himmel heller zu werden. Ich sagte: »Es kommt einem vor, als ob jemand die Nacht wegschält. Gott oder so.« Dann kam ich mir blöde vor. Aber Emily sagte, sie empfände das auch so, dass irgendwo Götter immer wieder aufs Neue den Himmel malten und übermalten, Wolken formten und durch die Gegend schickten und bis in alle Ewigkeit versuchten, eine perfekte Ästhetik herzustellen. Ich wusste damals nicht, was Ästhetik bedeutet, aber ich wollte auch nicht danach fragen. Es war die Art von Wort, die Emily und Mum benutzten, wenn sie sich über Kunst unterhielten, während ich dabeisaß und nur Bahnhof verstand. Ich wusste nicht, ob Emily an Gott glaubte oder nicht, aber diese Frage kam mir zu groß und bedeutsam vor, um sie gleich in diesem Moment zu stellen. Natürlich wünsche ich mir jetzt, dass ich gefragt hätte.
    Statt den Sonnenaufgang, betrachtete ich damals Emily. Sie hatte ihre Knie an die Brust gezogen, strich sich mit einer Strähne ihres hellen Haares über die Lippen und blickte verträumt. Ich drehte mich zum Himmel, da war schon eine Scheibe knallorangefarbener Sonne über den Dächern der Häuser im Osten herausgespuckt worden. Nach all der Warterei hatte ich den Sonnenaufgang verpasst.

Freitag, 27. Januar
    Heute beim Nachsitzen saß Mrs Haynes vorne am Pult und schrieb etwas. Sie hielt den Stift dabei so fest, dass ich dachte, sie würde damit gleich Löcher in die Seiten reißen. Ihr Gesicht war böse und hart. Ich versuchte, sie mir als Teenager vorzustellen, wie sie wohl wäre, wenn sie mit mir zur Schule ginge. Wahrscheinlich wie Zara, perfekt gekleidet, perfekte Frisur, schöne Zähne,
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