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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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Dienstag, 3. Januar
    Ich überlege, was ich schreiben könnte. Keine Ahnung, wo ich anfangen soll, aber das Schreiben selbst mag ich irgendwie. Vielleicht fange ich einfach mit heute Morgen an.
    Ich wachte echt müde auf und hatte etwas Furchtbares geträumt. Die meisten Leute, die ich kenne, würde es davor grausen, wieder in die Schule zu müssen, ich dagegen war froh, aus dem Haus zu kommen. Heute war der erste Tag nach den Weihnachtsferien, das hieß: Willkommen zurück an der St. David’s High! Ich wohne in Islington, das liegt im Londoner Norden, und mein Schulweg besteht aus zehn Minuten absolut langweiligem Fußweg und dann noch sieben Haltestellen mit dem Bus. St. David’s ist eine Mädchenschule. Ich bin im ersten Jahr der Oberstufe, aber weil ich erst im Juli Geburtstag habe, dauert es noch ewig, bis ich siebzehn werde.
    Da stand ich also frühmorgens in BH, Slip und Strumpfhose und zog meine Schuluniform an. Ich knöpfte die hellblaue Bluse (Small) zu, zog den Reißverschluss meines dunkelblauen Rocks (Medium) zu und schlug den Bund um, damit der Rock ein paar Zentimeter kürzer wurde. Ich zog meinen dunkelblauen Pulli darüber, kämpfte mich in den Blazer mit den furchtbaren Schulterpolstern und strich das Revers glatt, gleich neben dem Aufdruck Nil Ye Dread , was soviel wie Fürchtet euch nicht bedeutet. Ich schlüpfte in meine schwarzen Ballerinas. Beim Schlucken hatte ich einen bitteren Geschmack im Mund, der nicht einmal durch Zähneputzen wegging. Wie von zu starkem Kaffee. War ich nervös?
    Ich nahm die braune Tasche, die Emily mir aus Leeds mitgebracht hatte, lief durch den Flur, an Emilys Zimmer und an Mums Büro vorbei und ging die Holztreppe hinunter in die Küche. Mum (sie ist Innenarchitektin – zumindest war sie das bisher) hat die weißen Wände und das Parkett ausgesucht, das wir in jedem Zimmer haben, außer in der Küche, wo der Boden aus roten Korkfliesen ist. Niemand saß dort am runden Holztisch. Mir war klar, dass es weder Brot noch Milch gab, also hielt ich auch nicht an, um zu frühstücken. Ich rief nach oben zu Mum: »Ich komme später.« Sie antwortete nicht. Vielleicht war sie auch gar nicht da.
    Ich ging durchs Wohnzimmer, an den Bücherregalen vorbei und an den coolen Fotos von Plastiktüten, die Emily gemacht hatte. Ich öffnete die Haustür und trat hinaus in den kalten Morgen. Die Wolken waren mit grauem Licht durchzogen wie mit dichtem Rauch. Ich versuchte, gar nichts zu denken, meinen Kopf leerzumachen, aber ich schaffte es nicht, und für einen Moment waren die Erinnerungen einfach zu stark. Unsicher streckte ich eine Hand aus, wie eine alte Frau mit Parkinson, und sah, wie sie zitterte. Meine Lungen waren voller Rauch; die Luft war zu dick, um zu atmen. Ich lehnte mich gegen den Nachbarzaun, holte ein paarmal tief Luft und sagte mir, dass alles in Ordnung war.
    Sobald ich in den Bus gestiegen war, konzentrierte ich mich darauf, aus dem Fenster zu sehen, und kam heil bei der Schule an. Während ich unter dem Torbogen hindurch zum Hauptgebäude lief, sagte ich mir immer wieder, dass alles in Ordnung war; dass es Zeit war, über den letzten Sommer hinwegzukommen. Im Herbst war die Schule wie im Nebel an mir vorbeigewabert, aber jetzt hatte ein neues Jahr begonnen, das hieß Neuanfang – diesmal wirklich. Ich schlich mich an der Sekretärin vorbei, winkte ein paar Leuten zu, vermied es, genauer in ihre albernen, fröhlich grinsenden Gesichter zu sehen und irgendwelche Fragen über Weihnachten zu beantworten. Ich schob mich den Flur entlang, quetschte mich an irgendwelchen Grüppchen vorbei, an Mädchen, die Arm in Arm liefen, in ihre Handys sprachen oder von Mrs P. angeschnauzt wurden, nicht so zu drängeln.
    Alles um mich herum – die anderen, der Lärm, das Läuten des Schulgongs – war so laut, dass ich Kopfschmerzen bekam. Die Leuchtstoffröhren entlang der Decke surrten neongelb, die Farbe war viel zu grell für meine Augen. Ich holte tief Luft und rief mir meinen Neujahrsvorsatz in Erinnerung: Ich lasse alles, was passiert ist, hinter mir. Ich rede nicht mehr darüber, denke nicht mehr daran und lasse mich auch nicht von Erinnerungen überfallen wie von einem lauernden Tiger, nichts von all dem!
    Ich ging in mein Klassenzimmer und hielt nach meiner besten Freundin Abigail Ausschau, doch sie saß nicht auf ihrem Platz am Fenster, gleich neben den für Ms Bloxam ja so unverzichtbaren Weltkarten. Abi war spät dran. Oder ich zu bald. Ich weiß noch, wie
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