Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
Vom Netzwerk:
hängen lassen. Ich krempelte meinen Bund wieder zurück und zog den Rock nach unten, damit er wenigstens den größten Teil meiner Schenkel bedeckte. Zitternd rannte ich zu dem Wellblechschuppen am Ende der Wiese, wo Abi und ich uns früher immer versteckt haben – sie hat geraucht und wir haben uns dabei unterhalten. So viele Stunden haben wir dort verbracht. Wir haben Pläne für die Zukunft gemacht, über unsere Familien geredet – über ihre Mum, die zu viel trank, über meine Mum, die zu viel arbeitete, über unsere Schwestern und ihren Bruder –, wir haben über Jungs, über die Schule und über einfach alles geredet. Ich muss mir bei Abi mehr Mühe geben. Ich bin diejenige, die alles kaputtmacht. Eigentlich erstaunlich, dass sie mich überhaupt noch mag.
    Das Gras war morastig weich. Ich machte mir Sorgen, dass mich vielleicht ein Lehrer aus dem Addley-Gebäude sehen könnte. Ich stellte mir vor, wie die Musiklehrerin aus ihrem Klassenzimmer gerannt käme und mich zwingen würde, wieder hineinzugehen. Aber es kam niemand. Keiner kümmerte sich um mich.
    Als ich beim Schuppen anlangte, erwartete ich, dort allein zu sein, doch Rosa-Leigh stand da, die Arme um sich geschlungen, während sie von einem Fuß auf den anderen trat. Sie sah hinaus auf die Bäume und schien mich gar nicht bemerkt zu haben. Ich fragte: »Was machst du denn hier?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das Gleiche könnte ich dich fragen.«
    »Ich hasse Mrs Haynes«, sagte ich, als ob das alles erklärte.
    Sie sagte: »Ich hasse ganz England. Ich wünschte, ich könnte wieder zurück.«
    »Ich auch«, sagte ich.
    »Wohin denn zurück?«
    »Ganz egal«, antwortete ich und mir war klar, wie blöde das klingen musste.
    Sie trat an den Rand des Schuppens und reckte den Kopf zum Himmel. »Es regnet hier die ganze Zeit.«
    »Ich weiß.«
    »Wie kannst du damit leben?«
    »Wahrscheinlich bin ich es gewöhnt«, sagte ich und dann: »Ich bin in Kunst einfach abgehauen. Bestimmt muss ich nachsitzen.«
    Sie sagte: »Findest du es nicht auch bescheuert, dass wir Uniformen tragen müssen?«
    »Müsst ihr das in Kanada nicht?«
    Sie schüttelte den Kopf, ihr Haar war glatt, trotz des feuchten Wetters.
    Ich sagte: »Vielleicht sollte ich wieder in die Stunde gehen.«
    »Das kannst du nicht, wenn du einfach abgehauen bist.«
    »Wahrscheinlich muss ich nachsitzen.«
    »Mach dir deswegen doch keine Sorgen.« Sie nahm ihre Tasche. »Weißt du, ich wollte nicht so … na ja … unfreundlich sein, als wir uns kennengelernt haben«, sagte sie dann.
    »Schon okay.« Ich überlegte, was ich sonst noch sagen könnte. »Es ist schwer, an eine neue Schule zu kommen«, fügte ich schließlich noch hinzu.
    Sie lächelte mich an, als sei sie mir dankbar oder so was. Ich finde, sie ist richtig hübsch, und ich wünschte, ich sähe mehr aus wie sie. Als sie dann ging, sagte sie über die Schulter: »Ich glaube, wenn ich noch länger bleibe, wird Miss Sparrow mir nie glauben, dass ich auf der Toilette war.«
    Ich rief ihr nach: »Du warst echt richtig gut beim Tanzen«, und dann hätte ich mir auf die Zunge beißen können, weil sich das garantiert so angehört hat, als wollte ich mich einschleimen, aber sie war schon weg.

Donnerstag, 26. Januar
    Unser Haus hat im oberen Badezimmer ein Fenster, das auf ein Flachdach hinausgeht. Wenn ich dort rausklettere und mich aufs Dach setze, kann ich unter mir das Kommen und Gehen der Nachbarn beobachten. Ich kann auf die Dächer der Nachbarhäuser schauen und den orangefarbenen, sternenlosen Himmel von Nord-London bei Nacht betrachten, wenn die Stadt von Trillionen von Straßenlaternen erleuchtet wird. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos lecken an den Bäumen, die wie Brokkoli geformt sind; ein Zug rauscht vorbei und hinterlässt Dunkelheit. Ich sitze jetzt hier draußen und schreibe, auch wenn es so kalt ist, dass meine Finger sich brüchig anfühlen, wie Knochen ohne Haut oder Blut.
    Es war im Sommer vor eineinhalb Jahren. (Glaube ich jedenfalls, auch wenn es sich anfühlt, als sei es in einem anderen Leben gewesen.) Emily und ich kletterten aufs Dach, lange nachdem Mum schlafen gegangen war. Es dauerte noch Stunden bis zum Sonnenaufgang, aber wir hatten trotzdem vor, bis dahin wach zu bleiben. Fluffy – ich habe ihr diesen Namen gegeben, was (laut Emily) beweist, dass Einfallsreichtum nicht gerade meine Stärke ist – kam mit uns aufs Dach und schlich am Rand entlang, ein Schatten im Mondlicht.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher