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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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Abi und ich uns immer am Schultor getroffen und über unseren Morgen oder den vergangenen Abend geredet haben, auch wenn wir praktisch den ganzen Abend bereits telefoniert hatten oder im ICQ gewesen waren. Abi und ich haben uns am allerersten Schultag kennengelernt, als wir im Flur standen und nervös auf unsere erste Stunde warteten. Sie kam zu mir herüber und sagte hallo. Ich fand das total mutig, denn ich war zu schüchtern, um auf irgendjemand zuzugehen. Wir wurden schnell Freundinnen und haben so ziemlich alles zusammen durchgestanden. Ich war immer die typische ruhige, gute Schülerin, die anderen zuhört; sie war lustig, impulsiv und lebhaft. Sie brachte mich zum Lachen.
    Ich seufzte und ging in meine Tischreihe. Ein neues Mädchen saß auf dem Platz neben mir. An ihr sah unsere Schuluniform richtig gut aus. (Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist.) Ihre Bluse war nicht zu eng oder zu weit, und die Farbe passte gut zu ihrer milchigen Haut. Ihr kurzer Rock ließ das Fischgrätmuster ihrer schwarzen Strumpfhose sehen, und ihre Schuhe hatten einen kleinen Absatz.
    Sie saß über ihren Tisch gebeugt da und schrieb etwas, ihr langes, rabenschwarzes Haar fiel auf die Tischplatte. Ohne aufzusehen sagte sie: »Hast du vor, mich weiter anzustarren oder willst du etwas sagen?«
    Ich antwortete nicht. Da blickte sie hoch und kniff ihre blauen Augen zusammen. Sie fragte: »Was ist?«
    »Nichts. Ich wollte nur … es ist nur, dass Megan sonst da sitzt.«
    »Tja, dann muss Megan eben heute woanders sitzen.«
    Mir würde es nie einfallen, so etwas zu sagen. Ich entschuldige mich immer sofort und stottere herum, wenn mich jemand anmeckert. Was nicht mehr sehr oft vorkommt. Ich wusste nicht so recht, was ich antworten sollte. »Bist du Amerikanerin?«, fragte ich.
    Sie faltete das Papier zusammen, auf das sie geschrieben hatte, und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich komme aus Kanada. Aber ich lebe jetzt hier.«
    »Wieso?«
    »Meine Mom ist gestorben und ich bin vor zwei Wochen hierhergezogen, um bei meinem Dad zu wohnen.« Sie machte eine Pause. »Was ist?«, fragte sie dann.
    »Tut mir leid, das mit deiner Mutter.«
    Sie zuckte mit den Schultern und sagte: »Ist ja nicht deine Schuld.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und kippelte.
    »Was hast du denn geschrieben?«, fragte ich.
    »Nichts weiter.«
    »Ich bin nur neugierig.«
    »Ein Gedicht.«
    »Was für ein Gedicht?« Ich hatte noch nie jemand kennengelernt, der Gedichte schrieb.
    »Ein Gedicht über den Tod.«
    Ich hätte nicht sagen können, ob es ihr Ernst war. Aber ich würde über so etwas keine Witze machen. »Bist du jetzt in unserer Klasse?«, fragte ich.
    »Was meinst du denn?« Sie griff in ihre Tasche und holte ein Päckchen Kaugummi heraus. Mit einem kleinen Lächeln bot sie mir einen an, aber ich schüttelte den Kopf.
    Der Gong ertönte wieder und die anderen kamen ins Klassenzimmer. Die Neue blieb genau da sitzen, wo sie war. Die anderen sahen sie komisch an, beinahe als wäre sie ein Tier im Zoo, an dessen Existenz sie nicht glaubten – wie ein Okapi oder ein roter Panda. Abigail rannte mit einem lauten Kreischen auf mich zu und umarmte mich ganz fest.
    »Wo hast du über Weihnachten bloß gesteckt, Sophie? Wie war’s denn bei dir?«
    Sie wollte nur nett sein, aber ich verkrampfte mich trotzdem, denn zwischen uns war es in letzter Zeit irgendwie komisch geworden. Insgeheim gab ich mir selbst eine Kopfnuss, weil ich so bescheuert war; ich wollte das neue Jahr schließlich völlig NORMAL anfangen. Abi sah zu dem neuen Mädchen, sagte aber nichts zu ihr, nicht einmal hallo oder so. Sie – Abi, nicht das neue Mädchen – legte ihre Hand auf meine Schulter und erzählte mir von einer Party, die sie plante. Halb hörte ich Abi zu und halb beobachtete ich die Kanadierin, die ihr Papier wieder auseinanderfaltete, an ihrem Stift kaute und dann weiter an ihrem Gedicht schrieb.
    Es gongte zum dritten Mal. Ms Bloxam kam herein. Sie ist so dick und unsportlich, dass ich Angst habe, sie kriegt eines Tages einen Herzinfarkt. Ich stelle es mir vor: Wie sie uns aufruft, während der Schweiß ihr aufgedunsenes Gesicht herunterläuft. Plötzlich, wenn sie gerade dabei ist, »Sophie Baxter« (mich) und »Megan Bigley« aufzurufen, wird sie einen erstickten Laut ausstoßen und sich ans Herz fassen. Dann sackt sie über dem Pult zusammen und schnappt zuckend nach Luft, doch es wird zu spät sein. Ohne alle Schüler aufgerufen zu haben, wird sie
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