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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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PROLOG
    Es war der kurze Moment zwischen Nacht und Tag, der im Urwald magisch ist. Der letzte Augenblick der Stille. Die Dunkelheit mit ihren bleichen Geistern hatte sich noch nicht ganz zurückgezogen, der Tag aber war bereits den Flügelschlag eines Kolibris alt.
    Hoch oben in den Kronen der Baumriesen begannen sich die Affen in ihren Nestern zu rekeln. Schlangen, von der Kälte der Nacht gelähmt, harrten unter ihren Steinen aus.
    Plötzlich durchschnitt ein lautes Quieken die Luft. Die fei nen Nebelschwaden wurden durcheinandergewirbelt. Ein Gür teltier brach panisch aus dem Unterholz. Entsetzt wandte es den spitzen Kopf nach hinten. Etwas Monströses schien ihm dicht auf den Fersen zu sein. In Todesangst rannte es über die Lichtung.
    Nur einen Atemzug später preschten zwei Reiter aus dem Dickicht. Ohne das Tier überhaupt wahrzunehmen, galoppier ten sie in halsbrecherischem Tempo durch das fahle Dämmerlicht. Der Anführer trug einen Helm aus Gürteltierpanzern und eine Stirnkette aus Raubtierzähnen. Seine Ohrläppchen waren von Goldpflöcken durchbohrt und hingen ihm bis auf die Schultern. Und auf seiner Brust prangte ein goldenes Kreuz mit drei fingerdicken Querbalken – das Zeichen des höchsten Yatiri, des mächtigsten Magiers. Über ihm peitschten die Flügel eines dressierten Kondors die Blattspitzen.
    Als der Mann seinen Kopf hob, um sich zu orientieren, wurde das mehrfach gebrochene Nasenbein sichtbar, das ihm seinen Namen verliehen hatte: Kapnu Singa, Verbeulte Nase .
    Kapnu Singa hatte sich in so vielen Kämpfen durch Bruta lität und Kompromisslosigkeit ausgezeichnet, dass ihn der Inka zu seinem engsten Berater und obersten Kriegsherrn gemacht hatte.
    Der Zweite war ein unbedeutender Niemand, doch immerhin hatte er als Einziger von Kapnu Singas fünf Begleitern den Höllenritt überlebt. Durch die schweren Rüstungen niedergedrückt, beugten sich die Männer dicht über die Hälse ihrer Lamaguas.
    Diese Kreuzung, halb Jaguar, halb Lama, war perfekt für den Dschungel. Ausdauernd und zäh wie die Lasttiere, wild, wendig und sprungkräftig wie die Raubkatzen. Und das Beste: Die Tiere waren für die Spinnenmenschen, deren Territorium sie gerade gegen jede Abmachung durchquerten, als Beute ohne Nutzen. Diese Kreaturen spannen ihre Netze lieber zwi schen den Baumkronen. Der Boden des Waldes war ihnen nich t geheuer.
    Die Lamaguas waren beides Prachtexemplare von anderthalb Mannslängen mit regelmäßig getüpfeltem Fell. Gebleckte Lefzen legten blitzende Reißzähne frei. Doch die Köpfe bluteten aus unzähligen feinen Verletzungen, die Flanken waren aufgerissen von den anfeuernden Tritten ihrer Reiter. Die sonst glänzenden pechschwarzen Augen waren stumpf gewor den und starrten vor Erschöpfung wie irr geradeaus. Schaum quoll ihnen aus dem Maul.
    Unbarmherzig waren sie die ganze Nacht hindurch gehetzt worden. Zweige peitschten auf sie ein und quälten ihre geschundenen Körper noch zusätzlich. Wieder bohrte sich das dornenbesetzte Ende von Kapnu Singas Sandale in die Seite seines Tieres.
    Weiter, weiter!, das war der stille Befehl. Da vorne war schon der Knochenfluss, die fließende Grenze zum Reich des Inka.
    Das erste Tier setzte mit einem einzigen Sprung zum anderen Ufer über. Seine Vorderhufe brauchten einen Sekundenbruchteil, um Tritt zu fassen, dann kämpfte es sich die rut schige Böschung empor. Das zweite Tier zögerte. Wasser! Seine Kehle war seit Stunden ausgedörrt. Doch als es auch nur den Versuch wagte, den Hals zu beugen, riss sein Reiter heftig an der empfindlichen Mähne. Das Lamagua weitete entsetzt die Augen, warf den Kopf nach hinten, gab aber keinen Schmerzensschrei von sich. Jeglicher Laut war ihm mit harter Hand abgewöhnt worden.
    Im schlammigen Wasser wurde nun ein feines Muster sichtbar. Der knotige Kopf eines Alligators schob sich heran. Das Lamagua wendete trippelnd, holte erneut Anlauf und flog über das aufklappende Maul des riesigen Reptils hinweg. Mit rasendem Herzen holte es seinen Artgenossen ein.
    Weiter, weiter!
    Endlich konnten sie im Schatten der Bäume die Umrisse ihrer Stadt ausmachen: Paititi. Eine überwucherte Ruine.
    Ausmaße und Höhe der Stadtmauer zeigten an, dass sie erschaffen worden war, um übermächtige Feinde abzuwehren. Unter der dichten Pflanzendecke trugen ihre Steine tiefe Spu ren grober Waffen – Wunden
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