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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen
Autoren: Alice Kuipers
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direkt vor der ganzen Klasse sterben.
    Heute hat sie jedoch alle aufgerufen, allerdings nicht das neue Mädchen, und sie bemerkte anscheinend auch nicht, dass Megan zu spät kam, sich mit verschränkten Armen auf einen freien Platz setzte und alle böse anstarrte. Ms Bloxam fragte, ob wir schöne Weihnachten gehabt hätten, wartete aber gar nicht auf eine Antwort, sondern redete gleich weiter: »Ein neues Jahr hat begonnen, und wir freuen uns alle darauf … äh … nach vorne zu blicken, nach den … äh … furchtbaren Ereignissen des letzten Jahres. Ihr alle, liebe Mädchen, ihr alle« – ich bin mir sicher, sie hat mich dabei angesehen – »müsst euch auf das konzentrieren, was an Lernstoff ansteht, auf alles« –, an dieser Stelle holte sie Luft, weil sie scheinbar überhaupt keine mehr in den Lungen hatte – »auf alles, was auf euch zukommt, mit all der nötigen … äh … Ernsthaftigkeit, die ihr braucht, um eure Zukunft zu meistern. Bevor ihr euch verseht, werdet ihr völlig …«
    Ab dem Zeitpunkt schaltete ich ab. Ich bohrte meinen Stift in das Holz meines Tisches und schrieb den ersten Buchstaben meines Namens. S. Sophie. Ob ich wohl ein völlig neuer Mensch sein könnte, wenn ich einen neuen Namen hätte? Ein Mensch ohne Vergangenheit. Ein Mensch, der nur die Zukunft vor sich hat. Ich drückte das S stärker in das Holz und spürte Hitze in meinem Rücken. Ich drehte mich um, aber da war nichts. Keine Hitze, nichts außer Zara, die ihre sorgfältig manikürten Fingernägel mit einem silbernen Stern an jeder Spitze verzierte. Zara hat dunkle Haut und trägt ihr Haar um die Ohren herum ganz kurz, was ihr etwas Elfenhaftes gibt. Sie sieht aus wie ein Model. Als sie meinen Blick bemerkte, machte sie einen Schmollmund – ihre Art zu lächeln. Ich drehte mich wieder um. Ms Bloxam, die immer noch schwitzend ihren Vortrag hielt, kündigte an, dass in ein paar Wochen ein Tanzlehrer aus Manchester zu uns käme. Dann endlich stellte sie uns das neue Mädchen vor. Ihr Name ist Rosa-Leigh. Megan sprang hoch, unterbrach sie und sagte, Rosa-Leigh sitze auf ihrem Platz.
    Megan ist klein und hat einen ziemlich großen Busen. Ihr Haar ist irgendwie drahtig und schlammbraun. Sie hat einen breiten Mund mit (leider) perfekten Zähnen. Damit sie weniger blass aussieht, benutzt sie Bräunungscreme. Ihre Augen sind braun, was sich anhört, als seien sie schön, aber ich finde, sie wirken bei ihrer hellen Haut irgendwie zu gelblich. Sie kann noch so viel Bräunungscreme benutzen, ihre Augen scheinen einfach die falsche Farbe zu haben. Ich habe Megan noch nie gemocht. Sie kommt mir irgendwie teigig vor, wie ein ungebackenes Brötchen, vielleicht weil sie keine richtige Figur hat, abgesehen von ihren großen Brüsten. Diese Beurteilung ist eigentlich ziemlich fies von mir – schließlich bin ich selbst figurmäßig auch nicht gerade perfekt. Wahrscheinlich mag ich sie nicht, weil sie eine Klette ist. Sie ist immer DA. Man könnte meinen, das liegt daran, dass sie unsicher ist oder so was, aber das ist es nicht, denn sie findet sich selbst so TOLL. Ms Bloxam presste ihre Lippen aufeinander, sah Megan an, dann drehte sie sich um und sagte Rosa-Leigh, sie solle zu einem freien Platz auf der linken Seite wechseln.
    Ich sah zu Rosa-Leigh. Genau wie der Rest der Klasse: Dreißig Augenpaare sahen sie an. Sie wartete gerade lange genug, dass jeder dachte, sie würde es nicht tun, nahm dann aber im letzten Moment ihre Sachen, sagte: »Kein Problem« – und ging hinüber.
    Als Erstes hatte ich eine Doppelstunde Kunst. Dann Pause. Dann Englisch und Geschichte. In der Mittagspause zerrte mich Abigail zu ihr und Megan an den Tisch. Zara setzte sich zu uns, und ich hörte zu, während die drei über die Hausaufgaben, über Megans Freund und Zaras tolle Weihnachten in Spanien redeten. Ich sagte nicht viel. Im letzten Jahr hat sich alles geändert. Jetzt sitzen wir auf einmal alle zusammen, und ich muss so tun, als hätten Abigail und ich nicht immer darüber gelästert, wie langweilig und oberflächlich Megan und Zara sind. Ich mag Megan immer noch nicht, Zara eigentlich auch nicht, und Abigail mochte sie früher genauso wenig. Abi hat mir letztes Jahr noch erzählt, dass sie Megan nicht traue und dass Zara ihr das Gefühl gäbe, unwichtig und dumm zu sein. Das scheint sich geändert zu haben. Also saß ich da, war ganz normal und lachte genau an den richtigen Stellen, denn so sind die Dinge eben nun.
    Sie fingen an,
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