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Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli
Autoren: Ursula Kahi
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EINS
    Die alte Hexe beugte sich zu Silas hinab, und gern hätte Chris Morton ihr den längst fälligen Kinnhaken verpasst.
    Knapp vierzehn Tage wohnte er mit seiner Familie in Aarau – diesem Kaff im Kuh-, Käse- und Geldwaschparadies, wie seine Schweizer Freunde in den USA die Kantonshauptstadt nannten, und wusste bereits jetzt, dass er sich an die nachbarliche Dauerbespitzelung nie würde gewöhnen können. Nicht ein einziges Mal war es ihm gelungen, die Villa an der Fröhlichstrasse zu betreten oder zu verlassen, ohne dass sich die Vorhänge im Haus gegenüber nicht gebauscht hätten. Ein Wunder, dass die Alte ihn erst heute vor dem Einfahrtstor abgepasst hatte.
    «Das ist ja ein süsser Fratz. Ein Mädchen?», säuselte sie. Ihr Mund lächelte, ihre Augen aber blickten hart. Gierig sog sie jedes Detail des neuen Nachbarn in sich auf. Das war sie ihren Bekannten schuldig. Untersetzt, Bürstenschnitt, fleischige Oberarme – so also sah einer aus, der gemäss «Aargauer Zeitung» eine Antrittsprämie von sechs Millionen eingesackt hatte. Sechs Millionen dafür, dass er von der «Deutschen Unternehmenssparkasse» zur «Aargauischen Spar- und Handelsbank» ASH gewechselt war. Wenn er wenigstens Schweizer gewesen wäre. Aber nein: Amerikaner. Und dann dieses Kind. Entweder es weinte, oder es nuckelte an seinem Fläschchen. Da war bestimmt Limonade drin. Zuckerhaltige Limonade. Und wenn die Kleine später Übergewicht hatte und an Diabetes litt, wer kam dann für die Kosten auf? Etwa die Amerikaner?
    «Es ist ein Junge.» Liebevoll strich Chris seinem Sohn über den Kopf.
    «Er ist wirklich allerliebst. Und ganz der Vater.»
    Chris lachte – wie jedes Mal, wenn er diese Phrase hörte. Silas hatte zwar tatsächlich seine haselnussbraunen Augen geerbt. Und leider Gottes auch sein Kinn. Simone nannte es zärtlich sein König-Drosselbart-Kinn. Doch ob der Kleine seinem Vater glich, konnte nicht einmal Chris selbst beurteilen.
    Simone, die in Aarau aufgewachsen war und wusste, wie die Menschen hier tickten, hatte ihm ans Herz gelegt, über seine Vergangenheit zu schweigen. Chris hatte ihr zugestimmt. Doch jetzt konnte er nicht länger an sich halten. «Ich widerspreche Ihnen zwar nur ungern, Frau Kägi», sagte er und öffnete das schmiedeeiserne Tor zum Villenareal, «aber die Augen hat er von mir.»
    «Genau das sagte ich doch», sagte die Alte irritiert, «ganz der Vater.»
    «Sie verstehen mich nicht.» Chris schob den Buggy mit Silas in den Innenhof. Mit einem metallischen Klicken fiel das Tor hinter ihm ins Schloss. «Ich bin seine Mutter.»

ZWEI
    «Wahrlich, ich sage euch, das Ende ist nah! Die Erde wird widerhallen vom Geschrei der Irregeleiteten, und die Meere werden überquellen von ihrem Blut.»
    Kurt Bretscher biss in seinen Rohkostkräcker. «Seit wann ist Johannes wieder draussen?» Mit dem Kinn wies er auf den hageren Mann vor der Stadtbibliothek, der die Faust reckte, als dresche er auf einen unsichtbaren Gegner ein. «Ich dachte, der sässe in der Psychiatrischen.»
    «Wahrscheinlich hatten die in ‹Königsfelden› genug von seinem Gewäsch.» Gody Metzger schaute missmutig auf das leere Glas in seiner Hand. «Flora, noch einen Frischgepressten, bitte!»
    «Bei mir sind alle Säfte frisch gepresst, das solltest du langsam wissen», entgegnete die junge Frau hinter der Theke der veganen Imbissbude. «Aber wenn du bei Orangen-Grapefruit bleiben willst … Der kommt sofort.»
    «Bring gleich fünf Gläser von dem Gesöff. Ich geb ’ne Runde aus. Ihr seid doch dabei?» Erwartungsvoll sah Kurt Bretscher seine Stammtischfreunde an.
    «Ma sì.»
    «Nur, wenn die nächste auf mich geht.»
    «Sch-sch-schmeckt zwar scheusslich, a-a-aber immer noch besser als der Lindenblütentee, d-d-den mir Sonja immer braut.»
    Flora Winkelried lachte. Seit sie Gody Metzgers Grillhähnchenstand am Graben übernommen und daraus «Floras vegane Welt» gemacht hatte, verging kein Tag, an dem sich Gody Metzger, Kurt Bretscher, Vincenzo Bionda, Hans-Jakob Käser und Alain Schaad nicht bei ihr zu einem Glas oder zwei einfanden – und das, obwohl die Männer anfangs mit dem Veganen so ihre Probleme hatten. Aber noch immer tranken sie ihre Säfte mit einem Ausdruck im Gesicht, als enthielten sie frisch gepressten Schierling.
    «Warum geht ihr nicht ins ‹Mr. Pickwick›, wenn’s euch bei mir nicht schmeckt?»
    «Flora, das ist eine Sache zwischen uns Männern, weisch.» Vincenzo Bionda sah sie mit seinem Dackelblick
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