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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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werde jetzt von der Rolle der Gastgeberin in die der Ärztin schlüpfen, denn irgendetwas ist nicht in Ordnung. Das kann ich sehen. Möchtest du dich vielleicht kurz auf mein Sofa legen, während ich dir einen Tee koche?
    Ihre Augen hatten sich in meinem Gesicht verkrallt, und es schien, als müsste sie sich mit aller Kraft sammeln. Was war nur mit ihr los?
    – Danke, Ellen. Ja, etwas ist nicht in Ordnung. Etwas ist in Unordnung gekommen. Du hast recht. Vielleicht bekomme ich Fieber. Ich bin erschöpft. Wir sollten diesen Wein ein andermal trinken. Ich fahre jetzt besser nach Hause und ruhe mich aus.
    – Du fährst in diesem Zustand lieber nicht, Marthe. Ich werde dich fahren, und dann kann ich von dir aus zu Joachim gehen und mir das Auto leihen oder Heidruns Fahrrad aus der Garage holen.

    Marthe sah mich unverwandt an, ein seltsamer, fast feindseliger Ausdruck kroch über ihr Gesicht. Er kam aus der Mitte ihrer Stirn, oberhalb der Nasenwurzel. Die Falten an den Innenseiten ihrer Augen wurden sichtlich tiefer, nicht nach außen, zu den Schläfen hin, sondern zwischen Tränenkanal und Nase. Es kostete sie Mühe, die Beherrschung zu wahren.
    – Danke, Ellen, aber nein, danke. Ich setze mich jetzt in mein Auto und fahre nach Hause. Bitte bemühe dich nicht. Bitte.
    – Aber es ist keine Mühe, es ist meine ärztliche Pflicht …
    – Lass mich. Lass mich. Lass mich.
    Bei jedem Ruf wurde ihre Stimme schriller. Sie floh aus dem Haus, das sie gerade erst betreten hatte. Ihre graue Strickjacke rutschte über eine knochige Schulter, während sie die Treppenstufen hinunterflog. Wie dünn sie war. Draußen hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Noch ehe sie den Motor angelassen hatte, klingelte das Telefon.
    Orla, dachte ich und ging hinein.
    Aber es war Joachim. Heidrun war tot.

20.
    Ich weiß nicht, wo ich noch suchen soll. Ich bin am See. Ich war überall. Das Labyrinth ist längst abgemäht. Irgendwo muss sie sein. Wenn ich zwei Flügel hätt’, flög ich zu ihr. Weil’s aber nicht kann sein, bleib ich all hier. Aus der Vogelperspektive könnte ich sie sofort entdecken. Es kann nicht sein. Warum habe ich nie nachgerechnet? Nein, das stimmt nicht. Ich habe nachgerechnet und bin auf das falsche Ergebnis gekommen. Nämlich, dass Ellen eine Schlampe ist, weil sie sich so schnell mit dem Nächsten getröstet hat.
    Jetzt, wo ich es weiß, kann ich es sehen.
    Die Größe, die Nase und meine Stimme. Das Wissen macht mich vogelfrei, zum Abschuss frei. Heute Nacht wird er kommen und mich holen.
    Morpheus schwebt alsbald mit geräuschlos gleitenden Flügeln hin durch die Nacht.
    Uns beide wird er holen, und Heidrun holen wir auch noch ab. Heidrun und ich waren ihre Großmütter, Orlas Omas. Morpheus’ Oma war Nyx, die Nacht, die schwarzgesichtige Nacht.
    Die Mutter der Rache.
    Die Mutter des Trugs.
    Die Mutter des Verhängnisses.
    Nyx, Nox, fine knacks for ladies.
    Aber auch die Mutter der Zuneigung.
    Aus dem See kommen die Ochsenfrösche, bona nox. Der Reiher frisst die Kaulquappen. Er steht stundenlang still am Ufer, bis er zuschnappt. Meistens kriegt er zu fassen, was er fressen will, je doch manchmal pickt er eh daneben, ade! Nebel eben. Vorwärts, rückwärts, Knacks.
    Ich bin nicht allein am See.
    Andreas steht neben mir. Er schaut mir über die Schulter. Er will es lesen. Nix da. Ich habe die Kladde nach hinten geknickt, ihr Rücken knackt. So kann er nicht kiebitzen.
    Es regnet, Sprühregen, kaum dicker als Nebel. Er setzt sich neben mich, next to me, und sagt nix, bist ein rechter Ochs. Er hat einen Eimer voller toter Frösche, er fängt sie nachts.
    Tötest du auch die Kinder? Die Kaulquappen?
    Er schaut mich an, dann weg und nickt.
    Ich tue es auch. Bringt aber nyx.
    Ich muss lachen, aber Andreas versteht mich nicht.
    Er sammelt Frösche, ich Krebse. Kennst du die Amok-Oma?
    Er schaut mich an. Es ist schwierig, nicht zu lachen. Alles ist zu komisch.
    Seine Augen sind schwarz. Ich sage ihm, dass ich auf den Schlaf warte. Komm schwerer Schlaf, Abbild des wahren Todes, Kind der schwarzgesichtigen Nacht. Und Orla ist ihr Enkelkind und trägt jetzt schwarze Flügel wie sie. Ich bin Nyx. Gleich flieg ich fort. Der Reiher zieht nur in der Nacht.
    Andreas steht auf und geht weg.
    Seine Frösche lässt er stehen. Ich schaue in den Eimer. Sie sind gar nicht tot.

Die Vögel werden leiser, die Autos lauter. Der Tag ist angebrochen. Ich muss aufstehen, Orla wecken, Frühstück machen, zur Arbeit gehen. Kurz ins
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