Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
Vom Netzwerk:
Beruf.

2.
    Gleich kommt der graue Vogel über den Wald, über den See und nimmt mich mit. Ich halte Ausschau nach dem flachen Z am Himmel. Mein Hals ist noch länger geworden und dünn. Über den Sehnen und Adern wachsen Federn. Ich fühle, wie sie aus der Haut drängen. Es juckt und prickt wie ein eingeschlafener Fuß. Während ich sitze und warte, drücken sich meine Zehen immer weiter auseinander. Das tut weh, also ziehe ich die Schuhe aus, stehe auf und gehe ein paar Schritte ins Wasser. Meine Beine, immer schon lang und knochig, sind jetzt sehr dünn. Beim Gehen knicken sie nach hinten weg. Knicks, Knacks. Meine Knie sind wie die Knoten in dünnen Gräserstängeln, zarte Sollbruchstellen. Mein Kopf lässt sich leicht zurückbiegen, der Himmel ist nicht schwarz, es stehen keine Sterne, und kein Mond scheint. Komm, grauer Vogel, ich bin des Wartens müde, und mein Herz schlägt schon mit den Flügeln, bereit zum Flug. Komm jetzt. Oder komm nie mehr.

Erst nachdem ich schon geraume Zeit wach gelegen habe, merke ich, dass ich nicht mehr schlafe.
    Ein Vogel. Ganz in der Nähe. Eine Amsel. Und noch eine, weiter weg. Mehr nicht. Keine Autos. Also ist es noch früh. So gut wie Nacht.
    Eine U-Bahn zittert tief unter mir durch die Erde, nur spürbar als dumpfe Unruhe im Bauch. Wie Steine, die sich verschieben, im Inneren eines Berges.
    Singen Amseln aus Lust oder Verzweiflung?
    Mir kam es so vor, als hätte ich heute Andreas gesehen. Er saß am Steuer eines Taxis, Taxi-Hamburg stand auf der Fahrertür. Als er an mir vorbeifuhr, hob ich die Hand und öffnete den Mund. Die Sonne spiegelte sich im Dach des Wagens, und ich schloss kurz die Augen.
    Doch eigentlich glaube ich nicht, dass er es gewesen ist.
    Wenn man »ich« denken kann, schläft man nicht mehr.
    Ich schaue auf den Wecker, zehn vor vier. Wie üblich. Ich ziehe die Nachttisch-Schublade auf, fege den Wecker mit dem Handrücken hinein und schiebe zu. Sein Ticken ist um diese Zeit ohrenbetäubend, und seine Zeiger rasen. Ich drehe mich auf den Rücken und fühle, wie mein Gehirn dem Cortisol freie Bahn gewährt. Ich stelle mir vor, wie eine ockerfarbene Schleusenwand aus Hirnmasse hochgezogen wird und die schwarze Galle hervorschießt, um sich rasch in meinem Blutsystem zu verteilen. Gleich werde ich nicht nur hellwach, sondern auch noch schwermütig sein.
    Das Licht der Laternen und Lampen drückt sich durch die Ritzen der Blechjalousien. Es fließt durch die Löcher am Rand der Lamellen, überall dringt Licht ein, bohrt sich durch meine Lider, zertrümmert den Sehpurpur, reizt die Netzhaut.
    Hell ist es nachts in der Stadt, hell. Meine Lider brennen. Die Nacht in dieser Stadt ist heller als mancher trübe Nachmittag. Der Trübsinnige, behauptet Aristoteles, brauche nicht so viel Schlaf wie der fröhliche Mensch. Doch möglicherweise sind die Leute ja nur deshalb so melancholisch, weil sie nicht genug schlafen.
    Das Cortisol fließt kalt durch meine Blutgefäße.
    Menschen mit gut sichtbaren Adern brauchen angeblich auch nur wenig Schlaf. Die Adern in Heidruns Händen schienen oben auf den Handrücken zu liegen. Als sie mager wurde, hätte man beim Hochziehen der Haut die Adern von der Hand trennen können.
    – Sie schläft, sagte Joachim zu allen, die sich nach ihr erkundigten, sie schläft immer noch.
    Erst hatte ich vor, meine Kulturgeschichte des Schlafs, die schon so gut wie fertig ist, mit Aristoteles zu beginnen, mit seiner Frage, ob Schlafen und Wachen Eigenschaften der Seele oder des Körpers seien. Seiner Meinung nach ist Schlaf vor allem das Nichtvorhandensein von Wachsein, so etwas wie eine vorübergehende Blindheit oder Taubheit. Doch eigentlich glaube ich eher Heraklit, der sagt, dass die Schlafenden Tätige seien und am Geschehen der Welt mitwirkten. Als ich mit Joachim darüber sprach, wies er mich darauf hin, dass »schlafen« zudem ein unabhängiges und starkes Tätigkeitswort sei, »blind und taub sein« hingegen seien nur läppische Beiwörter mit etwas verbialer Verstärkung.
    Als ich alle meine Kräfte gesammelt hatte und in der Friedhofshalle meine Hand auf die Stirn meiner kalten Mutter legte, erfasste mich ein Schwindel. Die Stirn war fest und weich, nicht trocken. Hatte man sie eingecremt? Oder war das eine Art Talg? Talg ist ein seltsames Wort. Ich kann es nicht denken, ohne sofort an das Wort Unschlitt zu denken, an schlittern und Schleim. Woher kamen die riesigenFrösche im Baggersee? Frösche atmen durch die Haut. Heidruns Haut war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher