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Schwere Wetter

Schwere Wetter

Titel: Schwere Wetter
Autoren: Hannes Nygaard
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EINS
    In der Nacht
hatten die ersten Herbststürme vom Land Besitz ergriffen. Der Wind hatte sich
in der Traufschalung verfangen, das lose Brett am Schuppen hatte geklappert und
der Regen gegen die Dachschrägenfenster getrommelt. Es war eine stürmische
Nacht gewesen.
    Georgios
Tsakalidis hatte keine Ruhe gefunden, und als er schließlich doch in einen
unruhigen Schlaf gefallen war, hatte ihn der Wecker aus Morpheus' Armen
gerissen. Daphne, seine Ehefrau, hatte nur kurz die Augen geöffnet und »Sei
vorsichtig« gemurmelt, bevor sie sich auf die andere Seite gedreht und die
Bettdecke über den Kopf gezogen hatte.
    Tsakalidis war das
frühe Aufstehen gewohnt, auch wenn es ihm nach einer Nacht wie dieser
schwerfiel. Er hatte Kaffee gekocht, stark und süß, eine Tasse getrunken und
den Rest in die Thermoskanne eingefüllt. Die Plastikdose mit dem Brot und die
zweite mit dem Salat lagen schon griffbereit im Kühlschrank. Nach dem Bad und
dem Ankleiden hatte er eine Zigarette am Küchentisch geraucht und anschließend
sein Fahrrad aus dem Schuppen geholt. Das klappernde Brett, so nahm er sich
vor, würde er heute nach Dienstschluss befestigen.
    Es war kurz vor
fünf Uhr früh, als er sich aufs Fahrrad schwang und die menschenleere
Fährstraße entlangradelte. Wütend zerrte der Wind an seiner Kleidung, der Regen
peitschte ihm ins Gesicht. Nur mühsam kam er voran. Wie gut, dachte Tsakalidis,
dass er den Plastikumhang angelegt hatte. Sonst wäre er völlig durchnässt an
seinem Arbeitsplatz angekommen.
    Seit
sechsundzwanzig Jahren war Georgios Tsakalidis als Busfahrer beim Stützpunkt
Rendsburg der Autokraft tätig. Im Sommer, wenn es schon hell war um diese Zeit,
machte es ihm Freude, in aller Herrgottsfrühe mit dem Rad zur Arbeit zu fahren.
Aber an Tagen wie heute war es kein Vergnügen, ebenso wenig im regnerischen
November oder während der Wintermonate, wenn Schnee und Eis auf den Straßen
lagen. Dann waren an ihn, den Busfahrer, nicht nur im Beruf besondere
Anforderungen gestellt, auch der Weg zur Arbeit erwies sich als beschwerlich.
    Tsakalidis musste
stets lachen, wenn er im Winter die Aufforderung im Radio vernahm,
witterungsbedingt das eigene Fahrzeug stehen zu lassen und auf Bus und Bahn
auszuweichen. Und wer brachte das Personal des Nahverkehrs zum Arbeitsplatz?
    Eine Windbö
erfasste ihn, und er strauchelte fast, konnte sich aber noch fangen und
strampelte mit zusammengepressten Lippen weiter. Hoffentlich flaute der Wind
etwas ab, bevor Aliki den gleichen Weg zurücklegen musste, um zum
Helene-Lange-Gymnasium zu gelangen, das ebenso wie das Busdepot, das in der
Aalborgstraße angesiedelt war, auf der anderen Seite des Nord-Ostsee-Kanals
lag.
    Es lebte sich gut
in Osterrönfeld. Der aufstrebende Ort lag am südlichen Ufer des Kanals und war
durch eine Schwebefähre mit der regionalen Metropole Rendsburg verbunden.
    Rendsburg war
nicht nur als bedeutender Werft- und Handelsplatz bekannt, sondern genoss auch
wegen seines Wahrzeichens, der Eisenbahnhochbrücke, weit über die Landesgrenzen
hinaus Aufmerksamkeit. In einer Schleife schraubte sich die wichtige
Nord-Süd-Verbindung um den Stadtteil, der nach diesem technischen Meisterwerk
auch »Schleife« hieß, auf eine Höhe von zweiundvierzig Metern, um die
meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt zu überqueren. Unter dem
Mittelteil der Brücke hing die Schwebefähre an zwölf Seilen und überquerte an
dieser Stelle in etwa zwei Minuten den Kanal, und das seit gut einhundert
Jahren. Nur sieben Fähren dieser Art gab es auf der Welt, und eine war Teil von
Tsakalidis' Arbeitsweg. Da nur vier Pkws und etwa sechzig Passanten auf die
Fähre passten, hatte er es sich angewöhnt, unabhängig vom Wetter mit dem Rad zu
fahren und das Auto seiner Frau Daphne zu überlassen.
    Heute hatte
Tsakalidis keinen Blick für die Brücke. Manchmal sah man vom Ort aus die
Aufbauten der großen Schiffe, die über den Dächern Osterrönfelds zu schweben
schienen. Bei dieser Witterung konnte man allerdings nicht die Hand vor Augen
erkennen. Er bog um die Ecke und sah die hell erleuchtete Fähre, die Schranke,
die noch senkrecht stand, und das eine Fahrzeug, das sich zu dieser frühen
Stunde aufs Deck verirrt hatte.
    Zwei Radfahrer
hatten ihre Räder neben dem Pkw fast bis an die vordere Schranke geschoben,
zwei weitere Fahrgäste, die zu Fuß unterwegs waren, versuchten, hinter der
Plastikabdeckung notdürftig Schutz vor Regen und Wind zu finden.
    Er rollte auf die
Planken,
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