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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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und die Falte über der Nasenwurzel bilden. Bei der einen tiefer als bei der anderen.
    Und dann ist da das Fragezeichen ihrer eingerollten Ohrmuscheln.
    Sie selbst können es nicht lesen.
    Doch er weiß von Anfang an, wer Marthe ist. Er hat sie gesehen, als sie ihren kranken Mann abholen kam. Er kennt ihren Namen von den Briefumschlägen, die er sortiert hat, als Lutz’ Vater noch lebte. Er weiß, er muss ihr sagen, was er weiß, aber er weiß nicht, wie. Also sagt er nichts. Aber er passt auf. Das ist das Einzige, was er für sie tun kann. Er sieht, wie sie sich auflöst. Er schaut nach ihr und ihrer Enkelin.
    Fast hätte er zu spät gemerkt, was sie vorhat. Erst versteht er nicht, nach welchen Zeichen er suchen soll. Als er die Thermoskanne in Orlas Tasche findet, weiß er es. Es fällt ihm ein, dass er gesehen hat, wie Marthe letzten Dienstag die Kanne aus Orlas Tasche gezogen und ihr an diesem Abend wieder zurückgegeben hat.

    Mit der leeren Thermoskanne fährt er wieder hinunter zum See, da ist sie schon fort. Er wirft die Kanne in den See, aber an einer anderen Stelle.
    Die Taucher werden sie nicht finden.
    Lutz kommt vom Kieswerk her.
    Er ist schon vor ihm da und hat seine Sachen bei den Sandbergen abgelegt, seinen Rucksack, seine Frösche im Eimer. Lutz will weg.
    Die Ellen kriegt ein Kind. Ich bin raus, sagt er. Sie gehen zurück zu den Sachen. Seine Frösche will Lutz nicht mitnehmen. Lutz wirft erst den einen ins Wasser. Es platscht. Es ist ein fettes, saftiges Platschen. Lutz grinst. Er grinst zurück. Lutz bietet ihm den anderen Frosch an, er nimmt ihn und wirft ihn hinein, das gleiche satte Geräusch.
    Sie gehen zu den Sandbergen, den ganz hohen. Lutz gibt ihm einen Briefumschlag, für Ellen, sagt er, den Brief für seinen Vater habe er auf den Esstisch gelegt. Und er könne die Ellen jetzt haben, dabei zuckt er mit den Schultern und schaut ihn spöttisch an. Da wird er wütend und schubst Lutz. Lutz lacht, lässt sich fallen, rollt mitsamt Rucksack den Berg hinunter, springt auf und rennt auf den Sandberg daneben. Lutz’ Berg ist zwar höher als der, auf dem er selbst steht, doch in der Mitte ist eine Mulde, ein Krater. Die Förderbänder des Kieswerks haben den Sand von unten abgezogen. Der Berg ist ein Trichter aus Sand. Lutz hebt die Arme und ruft etwas.
    Und dann passiert es. Lutz’ Sandberg gerät plötzlich in Bewegung. Nein, nicht plötzlich, allmählich auch nicht. Andreas kann nicht einmal sagen, wie oder wo er sich bewegt. Es kommt aus dem Inneren des Berges. Er kann Lutz von seinem Berg aus nicht mehr sehen. Die Dämmerung legt sich von oben auf die grauen Hügel. Er hört sich schreien, aber wie von ganz weit weg. Lutz schreit auch. Etwas bricht,lautlos, es bricht von außen nach innen in den Sandberg hinein. Der Krater, in dem Lutz gerade noch stand, ist nun ein dunkles Loch. Er kann nichts erkennen von seinem Berg aus. Er kann auch nicht hinüber. Er schreit nicht mehr und Lutz auch nicht. Er ist nicht zu sehen. Der andere Berg ist lebendig, es sieht aus, als schauderte er. Unaufhörlich rieseln stumme Sandbäche an ihm herab. Große Brocken lösen sich, fallen schwer in die Mitte, lautlos, Massen und Massen von Sand. Es staubt ein wenig, aber nicht so viel, wie er bei dieser Menge Sand erwartet hätte. Es hört nicht auf zu brechen und zu rieseln. Jetzt vernimmt er doch ein Geräusch, ein Seufzen. Der Sand ächzt, während er bricht, und dann ein dumpfes Fallen. Die Steinchen rieseln wie feiner Regen. Als Lutz auf dem Berg stand, war es einen halben Meter bis zum äußeren Rand, jetzt aber stürzt der Sand klaftertief.
    Dann ist es vorbei. Dunkel ist es geworden, mit beiden Händen fährt er sich über das Gesicht. Sind viele Stunden oder nur wenige Minuten vergangen? Irgendwann rutscht er von seinem Berg und gräbt in dem von Lutz. Sofort fängt es wieder an zu brechen. Er tritt zurück.
    Der Berg ist still. Er hört nichts, kein Schreien, kein Klopfen, nichts. Der Berg ist gar kein Berg mehr, sondern ein großes Hochplateau. Alles sieht anders aus als vorher. Er kennt sich nicht mehr aus.
    Er setzt einen Fuß vor den anderen, er hat die Schuhe randvoll mit Sand. Der Untergrund ist lose und weich, und im Dunkeln knickt er zweimal um, dann wird der Boden fester. Als er das Gelände des Kieswerks verlässt, flattert vor ihm ein großer Vogel auf. Er erschrickt.
    Die Flügel des Vogels sind schwarz, das Z seines Halses wird sichtbar am Nachthimmel.
    Er wischt sich die Hände an seiner
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