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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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ordentlich nebeneinander. Ein schwarzer Eimer, wie man ihn zum Angeln benutzte, wurde auch gefunden. Er war leer bis auf einen Rest Froschkot am Boden. Wahrscheinlich von einem Angler vergessen.
    Fußabdrücke waren nicht mehr sichtbar, da es in der Nacht geregnet hatte. So konnte man nicht mit Sicherheit sagen, ob sie an dieser Stelle in den See gegangen war. Einige Tage später suchten Taucher diesen Bereich des Sees ab, fanden jedoch nichts.

    Einzig die Spuren eines Graureihers, hieß es, waren im Sand auszumachen. Er musste nach dem Regen am Ufer gestanden haben, denn die Umrisse der Abdrücke hoben sich scharf vom glatten grauen Untergrund ab, staksige Zeichen wie dürres Geäst. Die erste Zehe, die nach hinten zeigte, war kürzer als die drei übrigen Zehen, die nach vorne zeigten und dabei einen Pfeil bildeten, der wiederum nach hinten wies. Vorwärts und rückwärts, es war etwas verwirrend, denn es gab viele dieser Spuren, und sie führten in unterschiedliche Richtungen. Zwischen den vorderen Zehen hatte der Reiher nur ganz kurze Schwimmhäutchen. Es musste sich um einen besonders großen und schweren Graureiher gehandelt haben, denn die Abdrücke im Sand waren ungewöhnlich tief.
    Ich stehe auf, ziehe an den Jalousien, deren Lamellen mit einem schluchzenden Geräusch an dünnen Seilen Richtung Decke schnellen, wo sie sich leise klappernd ineinanderlegen.
    Da draußen ist ein verhaltener Frühlingstag, windig, frisch. Forsch öffne ich das Fenster, oja, frisch, sehr frisch.
    Die Frösche.
    Der Eimer neben den Schuhen.
    Andreas, nicht ich, ist der Letzte gewesen, der Marthe lebend gesehen hat.
    Es ist Andreas.
    Ich gehe hinüber in Orlas Zimmer und wecke sie. Sie schlägt die Augen auf und stöhnt empört. Ich schaue sie an. Morgens kann ich immer noch genau erkennen, wie sie ausgesehen hat, als sie noch klein war. Als sie noch klein war, konnte ich mir nicht im Traum vorstellen, wie sie einst aussehen würde, wenn sie groß wäre. Nicht einmal, wie sie vier Monate später aussehen würde. Ich geheins Bad, drehe den Hahn auf, das eisige Wasser auf dem Gesicht zerreißt den Kokon, den die Nacht um mich herum gesponnen hat.
    Kälte hackt ein auf meinen Kopf.
    Wasser am frühen Morgen macht schutzlos, ich dusche mir lieber abends den Tag von der Haut.
    An jenem Abend in Grund traf Marthe mich, Andreas traf Marthe, und Orla traf Andreas.
    Warum war Marthe so aufgewühlt? Und was ist unten am See genau geschehen? Ich muss unbedingt Andreas finden.
    Ich bin nicht mit ins Labyrinth gegangen, habe mich nicht in die Brombeerhöhle begeben, nicht einmal mit den Beinen auf der Drachenrampe im Schwarzwald habe ich gebaumelt. Und in der Nacht, als Lutz aus Grund verschwand, ging ich schlafen.
    Lutz und ich saßen an jenem Abend am See, als Andreas mit seinen Angelsachen auftauchte. Wir tranken Rotwein und stritten uns. Meine Schwangerschaft war ihm zu viel. Nein, das war es nicht, mir war sie auch zu viel. Ich stritt mit ihm, weil sie ihm eben überhaupt nicht zu viel war, sondern zu wenig. Sie schien ihn gar nichts anzugehen. Das war vielleicht auch einer der Gründe, warum ich das Kind behalten wollte, jemand musste anerkennen, dass dies hier geschehen war.
    Plötzlich stand Andreas hinter uns, Lutz sprang auf und begrüßte ihn mit einer Freude, die für mich wie ein Fußtritt war. Hätte Lutz Palmblätter gehabt, er hätte sie gewedelt, so erleichtert war er darüber, dass er unser Gespräch abbrechen konnte.
    Andreas sah mich an. Ich erwiderte seinen Blick nicht, sondern ließ ihn übers Wasser gleiten.

    – Kommt, wir gehen alle zusammen schwimmen, rief Lutz.
    Andreas stellte den schwarzen Eimer ab.
    – Kann jetzt nicht. Muss meinem Vater helfen. Später komm ich noch mal runter.
    – Okay, dann gehen wir am besten alle nach Hause, ich muss auch noch ein paar Dinge erledigen, und um neun rum treffen wir uns alle wieder hier.
    Lutz küsste mich. Ich schmeckte Rauch und Rotwein, mein Becken wurde warm und schwer. Lutz schaffte es immer wieder. Ich wusste, dass der Kuss Andreas galt. Für seine Augen war er bestimmt. Andreas schaute uns zu.
    Wir gingen gemeinsam zum Auto von Andreas’ Vater. Lutz und ich schoben unsere Räder. Am Auto drehte sich Andreas um und hob die Hand, es sollte ein Abschiedsgruß sein, sah aber eher aus, als wollte er uns auffordern, den Abstand zu wahren. Wir fuhren die Straße hoch ins Dorf. Andreas hupte, als er uns überholte. Lutz bog bei der katholischen Kirche rechts ab, ich fuhr in
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