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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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auf der Haut.
    Tränen stiegen mir in die Augen, und ich bückte mich rasch nach einem weißen Kieselstein. Benno wandte sich ab. Er hatte mich schon vergessen, noch bevor er mit beiden Händen nach der blauen Plastikschüssel griff. Der faulige Algengeruch des Ufersandes stieg mir in die Nase, als ich in die Hocke ging. Ich berührte den Sand, er war weich und etwas glitschig. Was war es im Lehm, das bei Nässe so quoll und schleimte? Froschhäutig auch die Farbe des Sandes. Als ich mich aufrichtete, stand er ein paar Schritte weiter am Wasser und starrte auf die trübe Flüssigkeit in der Schüssel, die er langsam hin und her schwenkte. Was über den Rand schwappte, fiel klatschend neben seine Füße. Die winzigen, glitzernden Goldflitter bewegten sich langsamer als die übrigen Teilchen der Sandsuppe und setzten sich am Boden der Schüssel ab wie die Reste der Erinnerung an eine alte Geschichte oder einen Traum.
    Ich wandte mich ab und stolperte durch den Wald nach Hause. Im Ohr hatte ich das metallische Hämmern meines Pulses. Gut zu wissen, dass das Herz noch da war. AmEnde war es nicht Hänsel, sondern die Hexe, die in den Ofen gestoßen wurde. Und was geschah mit der Mutter, die ihre Kinder zum Verhungern in den Wald geschickt hatte? Kindsmörderinnen, überall.
    Draußen vor meinem Fenster wird es hell, grell gellender Vogellärm kerbt das Trommelfell.
    Sterben.
    Hundert Jahre schlafen.

19.
    November.
    Zum letzten Mal Chor.
    Komm, schwerer Schlaf.
    Heidrun wird bald sterben. Ich habe es an der Haut ihrer Unterarme gesehen, kalt und marmoriert. Ellen kam herein, also ging ich fort. Auf der Schwelle haben wir kurz über den Chor gesprochen. Benno, der tragende Tenor, treibt sich im Wald herum, allein. Ellen hat keine Zeit und Orla keine Lust mehr. Selbst Joachim scheint aufgeben zu wollen. Alles ist in Auflösung begriffen. Orpheus hat Eurydike nicht zurückgeholt, er hat sie nur zum zweiten Mal sterben lassen, bevor man ihn zerriss. Reißen, ritzen, schreiben. Rissig bin ich geworden. Bald wird sich die Hülle von meinem Körper lösen, aber jetzt noch nicht. Jetzt noch nicht. Ich habe noch Zeit für diese eine Geschichte. Das Leben spielt sich ab zwischen Lösen und Reißen.
    Das Morphium ist eine Lösung.
    In steten Tropfen löst es den Schmerz auf, ich habe noch so viel davon. Es war für Ludwig, damit er nicht bei lebendigem Leibe zerrissen wurde. Das Verfallsdatum ist zwar überschritten, aber seine Wirkung hat es nicht verloren. Wir sind uns ähnlich, das Morphium und ich. Dann und wann nehme ich einen Tropfen, abends, einen Traumtropfen. Das tut nicht weh, habe ich Lutz gesagt, wenn er Medizin schlucken musste und Tränen der Wut und der Schwäche seine Backen hinunterrannen. Einschläfernder Milchsaft, Schlafmohn. Wenn der Klatschmohn auf den Feldern verblüht, bleibt eine kleine Urne auf dem Stängel stehen.
    Ich stehe neben Orla im Alt.
    Ich stehe neben den Menschen. Orla gibt mir Bonbons und rollt mit den Augen, wenn ihr Joachim oder Ellen peinlich sind. Aber um peinlich zu sein, muss man sich nahestehen. Wir stehen nebeneinander. Wir reden, sie schlürft ihren Tee und entschuldigt sich für ihr Schlürfen. Sie sagt, aus dem Deckel ihrer Thermoskanne könne man nur schlürfen, sonst müsse man sabbern. Ich sage, ich könnte ihr etwas von meinem heißen Holundersaft abfüllen. Sie nickt erfreut.
    Ellen wird es verstehen. Endlich wird sie verstehen.
    Ich kann sie nicht ausstehen. Sie hat meinen Sohn gehen lassen. Ich gehe nicht allein. Wenn Orla mitgeht, bin ich erlöst.
    Heute Abend wird der Chor aufgelöst. Ich habe die Tropfen in die Thermoskanne getan. Die Kanne habe ich letzten Dienstag aus ihrer Tasche geholt. Sie hatte immer wieder vergessen, sie mir mitzugeben. Ich bringe sie ihr heute zurück. Gefüllt mit heißem Holunderbeersaft, er ist bitter genug. Und mit den letzten Träumen.
    Warum ist Ellen zurückgekommen mit ihrem großen irischen Kind? Sie ist selbst schuld. Plötzlich ist sie überall und wühlt alles auf. Sie soll verschwinden. Sie kennt sich doch aus mit dem Schlaf, warum weckt sie das, was schlummern soll? Lutz ist weg. Mein großes verschwundenes Kind.
    Es hat sich in Luft aufgelöst.
    Orla ist mein Lösegeld.

Wenn Johanniskraut nichts mehr vermag, muss ich Schlafmittel nehmen, zunächst ein leichtes Antidepressivum. Ich empfinde es als persönliche Niederlage, mir selbst ein Schlafmittel zu verabreichen. Das autogene Training und die progressive Muskelentspannung, die ich
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