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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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waren seine Frösche. Sie kamen, nachdem er gegangen war. Sie kamen und kamen und hörten nicht mehr auf zu kommen. Sie schrien ihren Lockruf über das Wasser: Lutz, Lutz. Sie bliesen sich auf, und ihre Hälse schwollen an, als müssten sie an ihrer Geilheit ersticken.
    Noch bevor die ersten Frösche aus dem Wasser stiegen, ging ich in den See, damals, kurz nachdem Lutz fort war. Ich weiß nicht, ob ich wirklich die Kraft gehabt hätte, nicht zu schwimmen. Trotz der Steine in den Manteltaschen – ich hatte gelesen, dass man es so machen musste – und des schweren Wollstoffes kann man nämlich schwimmen. Es ist nicht leicht für einen guten Schwimmer, in einem See unterzugehen. Wenn man sterben möchte, sollte man lieber in ein Meer gehen wie Heidruns Bruder, von dem keiner weiß, ob er wirklich sterben oder ein Rabe werden wollte. Auchein Fluss ist besser geeignet als ein See. Eine Strömung ist hilfreich, Tiefe tut nichts zur Sache. Der Grunder Baggersee ist tief, aber ruhig. Nachdem ich keinen Boden mehr unter den Füßen spürte, merkte ich, dass ich überhaupt nicht unterging. Also tauchte ich unter und kam mir albern vor. Ich dachte an meinen Wasserteufel. Der Druck war offenbar noch nicht hoch genug. Ich beschloss, so lange zu schwimmen, bis mein Körper von sich aus schwer genug würde, um zu sinken.
    Ich hatte Andreas nicht gesehen. Auf einmal schwamm er neben mir. Ich erschrak fast zu Tode, was ich damals aber nicht ironisch fand. Letztlich bezweifle ich, dass ich es wirklich gemacht hätte, ich kann einfach viel zu gut schwimmen. Vor Scham wäre ich zwar für mein Leben gern versunken, als Andreas neben mir auftauchte, aber gerade darum war es mir unmöglich. Ich löste den Knoten im Gürtel des Mantels und ließ ihn mir vom Widerstand des Wassers abnehmen. Nicht einmal mein Mantel mit den Steinen in den Taschen sank sofort, ich hätte es nie geschafft. Schweigend schwammen wir eine enge Kurve und zurück an Land. Andreas packte seine Angelsachen zusammen, wir stiegen auf unsere Räder und fuhren in nassen Sachen hoch ins Dorf. Ich duschte bei ihm, lieh mir seinen Trainingsanzug und fuhr nach Hause. Noch am selben Abend schrieb ich nach Dublin und nahm den Praktikumsplatz am Krankenhaus an. Schwanger oder nicht, in Grund konnte ich jetzt sowieso nicht mehr bleiben, und nach Freiburg zog mich auch nichts. Alles, was ich berührte, war verflucht.
    Nicht am Spindelstich sterben, sondern nur hundert Jahre schlafen.
    Der Schlaf ist ein Gegengift. Die Patienten haben keine Ahnung, was über Tag im Körper alles falsch läuft und danebengeht, die Hormone, der Stoffwechsel, das Herz. Der Schlaf jedoch heilt das meiste über Nacht. Das Cortisol, das mich jede Nacht zwischen drei und vier Uhr weckt und dazu zwingt, mich zu erinnern, dasselbe Cortisol ist dafür verantwortlich, dass meine Erinnerungen an diese Dinge verblassen und ich wieder schlafen werde. Das ist so widersprüchlich wie wunderbar, und wenn ich darüber nachdenke, muss ich mich fast auflösen, um es ganz zu begreifen.
    Andreas sprach mit niemandem, auch nicht mit mir, über den Vorfall am See, natürlich nicht, er sprach schließlich gar nicht mehr.
    Ob er es war? Gestern? Im Taxi?
    Natürlich hat er einen Führerschein, ich weiß es. Aber warum sollte er in Hamburg sein? Und wäre es gut oder schlecht, wenn er hier wäre? Ein Übergriff oder ein Trost? Das einzige »wir«, das ich außerhalb der Familie kannte, war damals mit Andreas. Aber Erinnerungen sind letztlich doch nicht teilbar
    Benno hat die Arbeit tatsächlich als Dissertation eingereicht. Orla wusste es von Marthe, die Benno im Wald getroffen hatte. Angeblich habe er etwas von »anderen Plänen« gemurmelt, die er jetzt verfolgen müsse. Ob er je seine Disputation gehalten hat, weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal, wo er jetzt wohnt. Marthe habe gesehen, wie er neben seinem Brombeerversteck im Wasser gestanden und eine blaue Plastikwanne geschwenkt habe. Daraufhin machte ich mich sofort auf, um herauszufinden, was er da im Wald trieb und auch, um ihm zu sagen, dass er nicht mehr draußen übernachten sollte, es hatte den ersten Nachtfrost gegeben.
    Der Wald hatte sich verändert, seit ich Benno das letzte Mal geküsst hatte. Der Spätsommer war vorbei, jetzt gab esgenauso viel Laub am Boden wie an den Bäumen. Obwohl sich kein Wind regte, flatterten von überall Blätter auf die Erde. Sie flogen langsam, es waren so viele, sie fielen pausenlos von irgendwo herab. Mir wurde
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