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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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meinen Patienten in der Schlafschule empfehle, habe ich nicht mehr praktiziert, seit ich hierhergezogen bin. Vielleicht will ich gar nicht schlafen, vielleicht muss ich mir meine Geschichten wieder und wieder erzählen, darf nicht schlafen, damit ich etwas Lebenswichtiges begreife.
    Irgendetwas habe ich verpasst, verpeilt, verpennt, aber was?
    Und nun wache ich auf und bin in dieser fremden Stadt. Wie konnte das geschehen? Es ist so wie damals. Nur wachte ich damals auf und er war weg, jetzt bin ich es selbst, die verschwunden zu sein scheint.
    Aber Orla ist da. Ich habe an ihrem Bett gesessen und den Geruch ihrer Haare eingeatmet. Ich kann also ruhig schlafen. Vielleicht hilft es, einen Schlafapfel unter das Kopfkissen zu legen. Die Rosengallwespe baut diesen Apfel für ihre Tochter, die sie meist ohne Befruchtung bekommt.
    Ich weiß nicht, was »meist« in diesem Zusammenhang bedeutet. Kann die Rosengallwespe sich das etwa aussuchen? Hat sie den Wespensex nur zum Vergnügen, da sie ihn für die Fortpflanzung nicht benötigt?
    Die kleine Wespenlarve schläft in der zottigen Kugel auf der Unterseite eines Heckenrosenblattes. Pflückt man die Kugel ab und schläft darauf, so erwacht man anderntags erfrischt. Ich habe es noch nie ausprobiert, aber vielleicht sollte ich morgen Schlafäpfel sammeln gehen.
    Schlafäpfel jungfräulicher Wespen gibt es bestimmt in dieser kühlen Stadt, deren Rotlichtviertel weltberühmt ist, und in der die Männer nicht nach den Frauen schauen. Nie zuvor habe ich irgendwo gelebt, wo ich so wenig anerkennende Blicke zugeworfen bekommen habe wie hier. Neulich pfiff ein Bauarbeiter hinter mir her, und statt dies mit Naserümpfen oder Missachtung zu quittieren, war ich geradezu erleichtert. Gern hätte ich zurückgepfiffen, doch ich kann nicht auf zwei Fingern pfeifen, und die Hand schütteln ging nicht, er stand auf einer Leiter.
    Benno kam an dem Dienstag nach meinem Besuch im Wald nicht zur Probe. Joachim musste die Tenorstimme allein singen, aber er war nicht bei der Sache. Orla schaute auf die Uhr, Marthes Augen glänzten, sie schien in Gedanken weit fort zu sein, Andreas war noch stiller als sonst. Obwohl er nie etwas sagte, wirkte er an manchen Tagen gar nicht stumm. Es erschien dann eher wie ein Zufall, dass er gerade einmal nicht sprach. An diesem Abend jedoch war sein Schweigen so schwer, dass es uns schier die Luft abdrückte. Dies würde unser letzter Chorabend sein, aber das wusste ich noch nicht.
    In der Pause sah ich, wie Marthe Orlas Thermosflasche in der Hand hielt. Sie schaute zu mir, ihre Augen wirkten dunkel in ihrem dünnen, blassen Gesicht. Sie nickte mir zu und sagte, Orla wolle ihren Holundersaft probieren. Orla lächelte und bedankte sich. Ich schämte mich. Die ganze Zeit war ich so mit Heidrun und Benno beschäftigt gewesen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie Marthe und Orla sich angefreundet hatten. Marthe besuchte Heidrun sogar manchmal im Heim.
    Nach dem Singen verschwand Orla sofort in der Dunkelheit, sie hatte gesagt, sie wolle sich mit Adrian treffen, um das Labyrinth zu Ende zu bauen. Ich ging auf Marthe zu.
    – Was machst du jetzt noch?
    Marthe schien zu zögern.
    – Ich wollte nach Hause.
    – Möchtest du bei mir noch ein Glas Wein trinken?

    Marthe überlegte.
    – Gut.
    – Ich beeile mich, du hast ja dein Auto. Wir treffen uns vor meiner Haustür.
    – Ja, bis gleich.
    Schon als ich mein Rad aufschloss, bereute ich meine Einladung. Warum hatte ich mich nicht mit ihr im Adler verabredet, warum bei mir? Was, wenn sie nicht ging?
    Ich fuhr zügig durch die Felder nach Hause. Der Geruch von Mais, diese durchdringende Mischung aus Pflanzensaft und Brot, lag über dem kalten Dunst, der vom Ackerboden ausging, herbstlich. Noch ein paar vereinzelte Maisstangen und Kolben lagen kreuz und quer auf dem Feld verstreut. Es kam mir vor, als röche der Mais, der nicht mehr da war, stärker als ein ganzes Feld aus übermannshohen Maispflanzen. Erst da fiel mir auf, dass die Felder längst abgeerntet waren. Vom Maislabyrinth war nichts mehr übrig als eine große, dunkle Fläche. Ich hörte auf zu treten und rollte langsam an dem Labyrinth-Schild vorbei. Was hatte das zu bedeuten? Wo war Orla?
    Vor meinem Haus wartete Marthe. Als ich neben ihr stand, um aufzuschließen, musterte sie mich von der Seite und fragte:
    – Ist etwas?
    – Ach nichts. Orla hat etwas vom Maislabyrinth gesagt, das sie heute Nacht zu Ende bringen wollte, aber das Maislabyrinth ist schon lange
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