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Blackmail: Thriller (German Edition)

Blackmail: Thriller (German Edition)

Titel: Blackmail: Thriller (German Edition)
Autoren: Greg Iles
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    M anche Geschichten benötigen Zeit, bis man sie erzählen kann.
    Jeder Schriftsteller, der etwas taugt, weiß das. Manchmal wartet man darauf, dass Ereignisse ins Unterbewusste sickern, bis eine tiefere Wahrheit daraus entspringt; zu anderen Zeiten wartet man einfach darauf, dass die Hauptpersonen sterben. Manchmal wartet man auf beides.
    Dies ist so eine Geschichte.
    Ein Mann wandelt sein Leben lang auf dem Pfad der Tugend, befolgt die Regeln, bleibt innerhalb der Grenzen – und dann, eines Tages, begeht er einen Fehltritt. Er überquert eine Linie und setzt eine Kette von Ereignissen in Gang, die ihm alles nehmen, was er besitzt, und die ihn in den Augen der Menschen, die ihn lieben, für immer verdammen.
    Wir alle spüren diese unsichtbare Demarkationslinie, doch in unserer Natur ist etwas Wildes und Triebhaftes, das in uns den Wunsch erweckt, diese Linie zu übertreten, und das uns mit der lautlosen Beharrlichkeit des evolutionären Imperativs nötigt, alles zu riskieren für einen glitzernden Schatten. Die meisten von uns unterdrücken diesen Zwang. Die Angst hält uns häufiger auf als die Klugheit. Doch einige von uns tun diesen Schritt und betreten damit einen Pfad, von dem sie nur schwer – manchmal gar nicht mehr – zurückkehren können.
    Dr. Andrew Elliott ist so ein Mann.
    Ich kenne Drew, seit er drei Jahre alt war, lange bevor er Stipendiat an der Rhodes wurde und zur medizinischenHochschule ging, ehe er in unsere Heimatstadt mit ihren zwanzigtausend Seelen zurückkehrte, um sich als Internist niederzulassen. Unsere Bindung ist enger als die der meisten Freunde aus Kindertagen. Als ich vierzehn war, rettete der elfjährige Drew Elliott mir das Leben, wobei er selbst beinahe gestorben wäre. Wir blieben enge Freunde, bis er seinen Abschluss an der medizinischen Hochschule gemacht hatte. Dann sahen wir uns lange Zeit – zwanzig Jahre, schätze ich – praktisch gar nicht. Den größten Teil dieser Zeit verbrachte ich damit, als Assistent des Bezirksstaatsanwalts in Houston, Texas, die Verurteilung von Mördern zu bewirken. Die restliche Zeit schrieb ich Romane, die sich auf außergewöhnliche Kriminalfälle stützen, die ich im Beruf erlebt hatte, was mir eine neue Perspektive verschaffte und außerdem Zeit, die ich mit meiner Familie verbringen konnte.
    Drew und ich erneuerten unsere Freundschaft vor fünf Jahren, als meine Frau gestorben war und ich mit meiner kleinen Tochter nach Natchez zurückkehrte in dem Versuch, mein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Die ersten Wochen meiner Rückkehr gingen in einem spektakulären Mordfall unter, doch nachdem die Aufregung verklungen war, kam Drew als Erster meiner alten Freunde zu mir und versuchte, mich wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Er brachte mich in den Elternbeirat unserer alten Schule und in den Country Club und überredete mich, einen Heißluftballon und eine Sängerin von der Metropolitan Opera für die jährlichen Festivals von Natchez zu finanzieren. Er bemühte sich nach Kräften, diesen Witwer zurück ins Leben zu führen, und mit viel Hilfe von Caitlin Masters, meiner Freundin während der letzten Jahre, gelang es ihm schließlich auch.
    Das alles erscheint mir nun wie eine ferne Erinnerung. Gestern noch war Drew Elliott eine Säule der Gemeinschaft, von vielen verehrt und von allen als leuchtendes Beispiel hingestellt, doch heute schon wird er verachtet von denen, die ihn so geschätzt haben, und sein Leben steht auf Messers Schneide.Drew war unser Goldjunge, ein Vorbild für alles, was das kleinstädtische Amerika für ehrbar und erstrebenswert hält, doch wie nach einem ungeschriebenen Gesetz wird die Stadt ihn nun mit einem Hass verfolgen, der ihrer betrogenen Liebe in nichts nachsteht.
    Wie konnte Drew sich vom Helden in ein Ungeheuer verwandeln? Er sehnte sich nach Liebe, und indem er dieser Sehnsucht nachgab, brachte er eine ganze Stadt gegen sich auf. Gestern Abend noch war seine Legende intakt. Er saß neben mir an einem Tisch im Sitzungssaal der St. Stephen’s School, noch immer unglaublich attraktiv mit seinen vierzig Jahren, dunkelhaarig, athletisch, ein wenig grau zwar an den Schläfen, doch mit der eindrucksvollen Ausstrahlung eines Arztes in der Blüte seiner Jahre. Ich sehe diesen Augenblick ganz deutlich vor mir, denn es war jene Sekunde vor der Enthüllung, jener erstarrte Moment, in dem die alte Welt in sich ruhend am Rand der Zerstörung verharrt wie eine Porzellantasse an der Tischkante, um im nächsten
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