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Das Kind der Talibanfrau

Das Kind der Talibanfrau

Titel: Das Kind der Talibanfrau
Autoren: Yair Nehorai
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Vorwort
    Yair Nehorai
    Als ich ihn zum ersten Mal traf, war er müde, blass und verängstigt. Er wirkte wie ein Blatt im Wind, auf der Suche nach Vergebung. In sich zusammengesunken saß er an Händen und Füßen gefesselt auf einem kaputten Stuhl in seiner kleinen Gefängniszelle, in der ich ihn als Anwalt besuchte. Er wollte wissen, was über ihn geredet, was geschrieben und veröffentlicht wurde. Er stand unter Schock und wurde unablässig von seinen Gedanken gequält. Seine größte Angst war, dass die Schande ihn sein ganzes Leben lang begleiten würde. Als er freikam, versuchten wir zu verstehen, was mit diesem Jungen geschehen war, einem Jungen, dessen Mutter das Gelübde der Tugendhaftigkeit abgelegt hat und der in einer Umgebung aufgewachsen ist, in der Sexualität verboten ist. Er hatte gegen die Moral des Vaters verstoßen und die religiösen Lehren seiner Mutter nicht befolgt.
    Sehr bald wurde zur Gewissheit, was eigentlich von Anfang an klar gewesen war, nämlich, dass man lange Zeit brauchen würde, um eine wahrheitsgetreue Lebensgeschichte des Jungen erzählen zu können. Für das volle Verständnis der Tragödie, von Zeit, Ort und Perspektive müsste man tief in das Leben des Jungen eintauchen.
    Der Held dieses Buches ist daher erfunden. Sein Inneres, seine Gedanken, seine Wahrnehmung der Realität, die Erlebnisse und wie er sie für sich verarbeitet hat, gehören in die Welt der Fiktion. In der literarischen Form wird man sich der Komplexität des Themas am ehesten nähern können.
    Die Geschichte unseres Helden spielt sich bei ihm zu Hause, in seiner Familie ab, abseits der öffentlichen Wahrnehmung, die kontrollieren, bewachen oder schützen könnte. Seine Mutter schottete ihre Kinder von der Außenwelt ab, verwehrte ihnen den Kontakt mit anderen Menschen, Rabbis, Nachbarn oder Familienmitgliedern. Aus diesem Grund handelt es sich meiner Meinung nach nicht um eine »jüdische« Geschichte. Davon bin ich überzeugt, obwohl das Buch ursprünglich in Hebräisch geschrieben wurde, die Religion das Judentum ist, die Gesetze der Torah entstammen und sich die Begebenheit in Israel ereignet hat. In jedem Land, in jeder Kultur, Sprache und Religion gibt es Familien, in denen Regeln und Verbote herrschen, in denen Religion und Bräuche in einer Art und Weise missbraucht werden, dass die Kinderseelen verletzt werden. All das geschieht im Namen von Gott im Himmel, im Namen des Kindes, seiner Erziehung, im Namen der Liebe, im Namen von diesem, im Namen von jenen, im Namen von …
    Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch seinen Weg in die Herzen derer findet, die Misshandlungen erfahren haben, dass es helfen wird, die Wunden zu heilen, und vielleicht etwas dazu beitragen kann, dass nicht weitere hinzukommen.
    In jeder Sprache, jeder Kultur, jedem Dogma und jeder Religion.

Sechs Jahre

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    Ich habe Hunger
    sie soll die Tür aufmachen
    Mama ist taub
    hört meine Schreie nicht
    mein Hals
    muss trinken.
    Die Tür lässt sich nicht aufbrechen
    die Fäuste tun weh
    und die Füße
    vom Treten
    sie soll aufmachen.
    Ich will ihr Brot nicht
    schwarz eklig hart bröckelig
    und ich will dass David und Yehuda aufhören mich auszulachen weil alle anderen leckere Sandwiches mit Käse oder Schokoaufstrich haben.
    Nur ich darf nicht.
    Halt den Mund
    Lass es nicht verderben
    es ist gut für dich
    du kommst erst raus wenn du alles aufgegessen hast.
    Ich will nicht
    werde es nicht essen
    ich werde es ihr zeigen
    wieso darf nur ich keine Schokolade Süßigkeiten Kekse Kartoffelchips Eiscreme und Brot aus dem Laden haben?
    Ich will dass sie mich rauslässt.
    Hasse Vollkornbrot und gesundes Essen
    muss raus hier
    draußen spielen
    die Tür lässt sich nicht aufbrechen
    sie wird mich niemals rauslassen
    niemals
    bis in alle Ewigkeit.
    Ich werde essen
    dann nach unten laufen
    den anderen Kindern die Schokolade wegnehmen
    das mache ich
    wenn sie mich nur endlich rauslässt.

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    Die Pyjamabären tanzen
    sie riechen auch nach Shampoo
    Mama hat sie gewaschen
    genauso wie mich
    mit ganz viel Seife und Wasser
    ganz oft
    doll geschrubbt
    sogar hinter den Ohren
    das Gesicht
    zwischen den Fingern
    und den Zehen
    bis der ganze Dreck weg war.
    Und dann noch mal
    weil doch nicht alles weg war
    dann noch mal
    bis wirklich alles ganz ganz sauber war.
    Das Bett ist weich
    Mama hat meinen Kopf gestreichelt
    und mir ein Schlaflied gesungen.
    Der Mond lächelt
    mit einem dicken Gesicht
    gelb und orange und rot
    der Teddybär auch.

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    Rabbi
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