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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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die Unterführung hinein, sie war kühl und roch nach feuchtem Beton, fast vermeinte ich darin den Geruch des Sandes aus dem Baggersee zu erkennen. Doch gleich war ich schon wieder aus dem kurzen Tunnel heraus, die Luft fiel sofort warm auf meine Schultern. Ich fuhr langsam nach Hause.
    Im Nachhinein kam es mir vor, als hätte ich von da an bis zu meinem Umzug nach Dublin nur noch geschlafen. Mir war nicht besonders übel, aber ich war immer müde, geradezu narkoleptisch. Später ging es besser.
    Ich habe den Wecker aus der Schublade geholt und entschärft, habe Kaffee und Tee gekocht und all die Dinge auf den Tisch gestellt, die Orla und ich uns morgens in die Milch schütten. Weizenkeime, Quark, Cornflakes, Haferflocken, ich die kernigen, sie die blütenzarten, sie Sanddornsaft, ich Honig. Die Birnen liegen auf einem weißen Teller. Ich schenke mir Kaffee ein, Orla trinkt Tee mit Milch. Sie ist eben doch mein irisches Kind.
    An jenem Abend ging ich um neun an den See. Andreas war schon da, Lutz noch nicht.
    – Was ist los, Ellen?
    – Nichts.
    Wenn eine Frau »nichts« sagt und dabei nicht hochschaut, wissen alle Männer, dass sie unbedingt nachfragen müssen, sonst haben sie für immer verspielt. Auch Andreas schien das zu wissen.
    – Also was?
    – Nichts.
    Und dann fing ich an zu heulen. Andreas legte seine Hand auf meine Schulter, aber auf die Schulter, die ihm am nächsten war, er nahm nicht die andere, bei der er meinen ganzen Rücken in den Arm hätte nehmen müssen.
    – Sag Lutz, ich wär schon weg.
    – Komm wenigstens einmal ins Wasser. Jetzt. Mit mir.
    – Nö. Ich fahr heim.
    – Ist gut, Ellen. Ich sag’s ihm.
    Am nächsten Tag war Lutz verschwunden.
    Andreas war der Letzte, der ihn gesehen hatte. Aber er sprach nicht mehr mit mir. Er sprach überhaupt nicht mehr. Und Andreas muss auch der Letzte gewesen sein, der Marthe gesehen hat. Ein schwarzer Eimer stand am Ufer. Es muss jener Eimer gewesen sein, in dem er die Ochsenfrösche, die er in seinem Netz gefangen hatte, fortbrachte.
    Der Ochsenfrosch ist angeblich das einzige Tier auf der Erde, das nicht schläft.
    Vielleicht hat er aber nur eine andere Art des Schlafs.

    Ein paar Wochen, nachdem Lutz weg war, war ich schließlich doch mit Andreas im Wasser, mit ihm und mit meinem Mantel, den Steinen in den Taschen und wirren Plänen. Doch es wurde nichts daraus, und dann war ich fort – und da kommt mein ungeplantes großes Kind an den Frühstückstisch, und sein nasses, schweres Haar ist dunkel wie die Früchte der Wassernuss, und seine Augen haben die Farbe des Baggersees an jenen Stellen, wo es flach und sandig ist, nur viel klarer.
    Ich habe Andreas gesehen. Er war es. Die Sonne glänzte auf dem Dach seines Wagens.
    Ich muss ihn fragen.
    Orla nimmt ihre Schulsachen, küsst mich und schlägt die Tür hinter sich zu. Poltern auf der Treppe, noch ein Türenknallen. Sie ist spät dran.
    Ich lehne mich aus dem Fenster im Schlafzimmer und schaue hinunter auf die Straße. Ein weißer, leuchtender Schmerz klopft von hinten an meine Augen, ich kneife sie zusammen und sehe Streifen. Es sind die Schlagschatten von der Schlafzimmerwand, sie haben sich in meine Netzhaut gestanzt. Die Streifen laufen kreuz und quer durch meinen Kopf, und es ist mir, als würde sich meine Spinnwebhaut auf die Schattenseiten meiner Augen legen, die in ihren Höhlen ruhen, Fangnetzhäute, und jedes Blinzeln zieht sie fester zu.
    Für diese Nacht muss ich mich geschlagen geben, aber schon heute kommt die nächste. Und morgen wieder eine. Gleich öffne ich die Tür und gehe hinaus. Alle Vögel sind verstummt. Der Klang meiner Absätze wird Löcher in den angebrochenen Tag reißen. Die Robinie, die neben der Bushaltestelle aus dem Bürgersteig wächst, wird sich bald öffnen, ihr süßmüder Duft wird aus den Blüten herabfallen,aber noch sind sie blass und geschlossen. Morgen vielleicht. In den verfilzten Spinnweben an der Fensterbank hängt die Feuchtigkeit und macht sie schwer. Ich werde ihn finden und ihn fragen. Und ich werde schlafen. Morgen. Spätestens übermorgen.

21.
    Das meiste ist lesbar.
    Er liest das M ihrer Oberlippe, bei der einen scharf gezeichnet, bei der anderen etwas ausgefranst.
    Er entziffert das Ypsilon aus zweiter und dritter Zehe des rechten Fußes. Sie sind von unten ein kleines Stück zusammengewachsen, Schwimmhäutchen. In den Sandalen von Marthe ist ein Ypsilon und in Orlas schnalzenden Badelatschen ein anderes.
    Er sieht das W, das die Augenbrauen
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