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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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    Mein Geburtstag fiel auf den 4.   Januar 1951, also in die erste Woche des ersten Monats zu Beginn der zweiten Hälfte des 20.   Jahrhunderts. Aufgrund dieses denkwürdigen Datums erhielt ich den Namen Hajime, was »Anfang« bedeutet. Ansonsten war an meiner Herkunft nichts Bemerkenswertes. Mein Vater arbeitete in einem großen Wertpapierhaus, und meine Mutter war Hausfrau. Vater war als Student nach Singapur an die Front geschickt geworden, und als der Krieg vorbei war, hatte er noch einige Zeit in Gefangenschaft verbracht. Die Familie meiner Mutter war im letzten Kriegsjahr während der B-29-Angriffe ausgebombt worden. Meine Eltern gehörten der Generation an, die durch den Krieg am meisten gelitten hatte.
    Als ich auf die Welt kam, wies freilich kaum noch etwas auf diesen Krieg hin. In dem friedlichen Vorort, in dem wir wohnten, gab es weder Ruinen noch Besatzungstruppen. Unser Haus, das der Firma meines Vaters gehörte, war noch vor dem Krieg gebaut worden und etwas altmodisch, dafür aber großzügig angelegt. Im Garten standen große Kiefern, und es gab sogar einen kleinen Teich mit einer Steinlaterne.
    In unserer Gegend lebten ausschließlich Angehörige der Mittelschicht, ja, sie war geradezu ein Musterbeispiel für solche Vororte. Alle in meiner Klasse, mit denen ich mehr oder weniger befreundet war, wohnten in netten, eigenen Häusern. Sie mochten unterschiedlich groß sein, hatten aber alle einen Eingangsbereich und einen Garten mit Bäumen. Die Väter meiner Freunde waren Firmenangestellte oder selbstständig. Berufstätige Mütter waren eine Seltenheit. Die meisten Familien hielten entweder einen Hund oder eine Katze. Ich kannte niemanden, der in einer gewöhnlichen Mietwohnung oder einem Apartmenthaus wohnte. Später zogen wir in ein anderes Viertel in der Nähe, das ganz ähnlich strukturiert war. So kam es, dass ich, bis ich nach Tokio auf die Universität ging, in dem Glauben lebte, jeder normale Mensch müsse in Schlips und Anzug zur Arbeit gehen, in einem Haus mit Garten wohnen und einen Hund oder eine Katze halten. Einen anderen Lebensstil konnte ich mir praktisch nicht vorstellen.
    In meiner Welt hatte eine Durchschnittsfamilie entweder zwei oder drei Kinder. Sämtliche Freunde meiner Kindheit hatten ausnahmslos noch ein oder zwei Geschwister. Waren sie nicht zu zweit, dann waren sie zu dritt, wenn nicht zu dritt, dann zu zweit. Familien mit sechs oder sieben Kindern waren selten, aber längst nicht so selten wie solche mit nur einem Kind.
    Ich war der Einzige, der keine Geschwister hatte. Ich war ein Einzelkind und hatte deshalb einen Minderwertigkeitskomplex. Ich war die Ausnahme in einer Welt, in der andere ganz selbstverständlich etwas besaßen, was mir fehlte.
    In meiner Kindheit verabscheute ich nichts so sehr wie das Wort »Einzelkind«. Stets aufs Neue ließ es mich meine Unterlegenheit spüren. Es zeigte mit dem nackten Finger auf mich. »Du da«, sagte es, »dir fehlt was.«
    In meiner Welt herrschte unerschütterlich und allgemein anerkannt die Meinung, Einzelkinder seien von ihren Eltern verwöhnt, schwächlich und egoistisch. Dies galt als eine Art Naturgesetz, ähnlich dem Umstand, dass Kühe Milch geben oder dass der Luftdruck fällt, wenn man auf einen hohen Berg steigt. Deshalb hasste ich es, nach der Anzahl meiner Geschwister gefragt zu werden. Jemand brauchte nur zu erfahren, dass ich keine hatte, und schon stellte sich bei ihm unwillkürlich der Gedanke ein: Sieh da, ein Einzelkind, verwöhnt, schwächlich und egoistisch. Diese stereotype Reaktion hing mir zum Hals heraus und kränkte mich nicht wenig. Was mich jedoch besonders kränkte und ärgerte, war, dass diese Annahme völlig den Tatsachen entsprach. Ich war wirklich ein verwöhnter, schwächlicher und ziemlich egoistischer Knabe.
    Ein Kind ohne Geschwister war also eine echte Rarität. In den ganzen sechs Jahren meiner Grundschulzeit begegnete ich nur einem anderen Einzelkind. Deshalb erinnere ich mich auch sehr gut an sie. (Ja, es war ein Mädchen.) Wir freundeten uns an, denn wir konnten über alles reden. Zwischen uns herrschte eine Art inneres Einverständnis. Man könnte sogar sagen, dass ich dieses Mädchen liebte.
    Sie hieß Shimamoto. Kurz nach ihrer Geburt hatte sie Kinderlähmung bekommen und zog deshalb das linke Bein etwas nach. Außerdem war sie erst gegen Ende der fünften Klasse neu auf unsere Schule gekommen. Allein deshalb muss sie unter weitaus größerem psychischem Druck gestanden haben als
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