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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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begegneten mir noch mehr Spinnen als früher im Haus meiner Eltern. Dabei hatte ich nicht einmal mehr einen Keller. Für Orla war der Umzug eine große Veränderung, das Zurücklassen ihrer Freundinnen, das Fehlen der englischen Sprache und der Rechtsverkehr. Aber sie kannte Grund, wir hatten fast jeden Sommer und oft auch Weihnachten dort verbracht.
    Das Haus, das wir gemietet hatten, befand sich außerhalb des Dorfes im Tiefgestade, gleich am Wasser zwischen Rhein und Deich. Es stand auf einem Sockel, und eine lange Treppe führte von der Straße hinauf zur Haustür. Bei Hochwasser endete die Treppe mitten im Fluss, dann sah es vor der Haustür aus wie im Freibad. Einmal war der Rhein über Nacht so schnell gestiegen, dass wir morgens von der vierten Treppenstufe aus in das Schlauchboot der freiwilligen Feuerwehr steigen mussten. Aber eigentlich zogen wir, wenn Hochwasser zu erwarten war, rechtzeitig hoch in den Ort, in das Haus meiner Eltern.

    Joachim hatte ohnehin nicht verstanden, warum wir nicht gleich bei ihm wohnten. Und seit Heidrun im Heim war, war es ihm noch unbegreiflicher, schließlich stand das Haus fast leer. Aber ich konnte nicht mit Joachim zusammenleben, hatte es nie gekonnt. Erst als ich von zu Hause ausgezogen war, merkte ich, dass der Zorn, der mich die ganzen Jahre über schon am frühen Morgen überfallen hatte, gar nicht zu den angeborenen Fehlern meines Charakters gehörte, sondern einzig daher rührte, dass ich nicht gut mit einem geräuschvollen, singenden, dozierenden, anteilnehmenden, neugierigen, streitlustigen und fröhlichen Menschen frühstücken konnte.
    Joachim seinerseits konnte es nur schwer ertragen, wenn man in seinem Haus Dinge anders handhabte als er. Er hatte schließlich über diese Dinge nachgedacht, er hatte verschiedene Wege der Handhabung ausprobiert, verworfen, ersetzt, bis er den richtigen, den besten Weg gefunden hatte. Gegenvorschläge wurden objektiv geprüft und gegebenenfalls angenommen, aber wenn sie der Prüfung nicht standhielten, ließ er nicht locker, bis sie durch den optimalen Weg ersetzt worden waren. Das galt für alles, vom richtigen Ausziehen eines Pullovers – nämlich so, dass er auf rechts gedreht blieb – über die Fragen nach Atomenergie und dem politischen Programm der Oppositionsparteien bis hin zum Beladen der Gabel mit möglichst vielen Erbsen – nämlich mithilfe von Kartoffelbrei, der dabei als Mörtel diente.
    Wenn ich als Kind am Wochenende noch schlief, er hingegen schon wach war, sang er sehr laut, hörte aber damit auf, sobald er mich wach wusste. Sprach Heidrun ihn vorsichtig darauf an, teilte er ihr mit, dass man in seinem Haus ja wohl hoffentlich noch singen dürfe.
    – Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, rief er in einer Art rhythmischem Sprechgesang,

    – böse Menschen ––
    und er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu,
    – böse Menschen haben keine Lieder. So.
    – »So« heißt »und jetzt halt den Mund«, sagte Heidrun kühl und ging in die Küche.
    Jedenfalls zogen Orla und ich nicht bei ihm ein. Und ich tat, was ich immer zu tun pflegte, wenn ich keine Lust zu einer Sache verspürte, dies aber nicht zugeben wollte: Ich schob das Wohl des Kindes vor.
    – Orla ist in einer schwierigen Phase, sie muss sich hier ganz neu eingewöhnen, und das noch ohne Declan, da ist es besser, ich bin die Einzige, mit der sie sich auseinandersetzt.
    Das Haus am Fluss, das Orla und ich bezogen, war nicht schön. Es sah aus, als habe ein fantasieloses Kind es gemalt. Ein rechteckiger Kasten mit spitzem Dach, feucht, alt und dunkel. Der Deich grenzte an die Rückseite des Hauses, und hinter dem Deich begann der Rheinwald, ein Urwald, ein dunkelgrüngraues Dickicht aus Pappeln und Weiden, in dem meistens an irgendwelchen Stellen schwarz das Wasser stand. Manchmal war es verschwunden.
    Ich lege meine Zungenspitze auf den feinen Grat zwischen den beiden oberen Schneidezähnen. Leicht, ohne Druck. Wenn ich mich auf das Gefühl in meiner Zunge konzentriere, die diese glatten, glitschigen alveolaren Hügel abtastet, höre ich auf, an etwas anderes zu denken, etwas, das mich am Einschlafen hindert. Die Übung ist einfach genug, um mich nicht aufzuregen, und anspruchsvoll genug, um meine Aufmerksamkeit zu bündeln. Etwas anderes denken, etwas anderes, Andreas.
    Es ist ein Rätsel, warum sich diese Brückenspinnen in der Hafencity nicht untereinander bekämpfen, aber anscheinend steigen genug Mücken für alle aus dem Wasser. So tun sie
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